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Anforderungen an Testierunfähigkeit bei Sehschwäche

AG Neuss – Az.: 132 VI 46/16 – Beschluss vom 12.04.2017

Die Tatsachen, die zur Begründung des Antrags der Beteiligten zu 1 erforderlich sind, werden für festgestellt erachtet.

Das Nachlassgericht bewilligt die Erteilung des beantragten Erbscheins (§ 352e Abs. 1 FamFG).

Die sofortige Wirkung des Beschlusses wird ausgesetzt und die Erteilung des Erbscheins bis zur Rechtskraft dieses Beschlusses zurückgestellt.

Der Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 2 vom 11.5.2016 wird zurückgewiesen.

Die Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten der Beteiligten trägt die Beteiligte zu 2 mit Ausnahme der Gebühren, die für die Stellung des Erbscheinsantrages der Beteiligten zu 1 angefallen sind. Diese Gebühren trägt die Beteiligte zu 1 selbst.

Gründe

Die ledige Erblasserin verstarb am 3.1.2016 ohne Hinterlassung von Abkömmlingen. Die Eltern waren vorverstorben, Geschwister waren keine vorhanden. Zum Zeitpunkt des Todes lebten noch Geschwister der Eltern sowie Abkömmlinge vorverstorbener Geschwister.

Die Erblasserin errichtete unter dem 22.4.2014 und unter dem 14.4.2015 zwei handschriftliche Testamente. In beiden letztwilligen Verfügungen setzte sie ihre Cousine aus der Linie der Mutter, die Beteiligte zu 1, als Alleinerbin ein, zusätzlich machte sie im Testament vom 14.4.2015 zur Auflage, dass das Haus in der N. nach Erbantritt nicht verkauft werden dürfe.

Die Beteiligte zu 1 hat unter Berufung auf die letztwillige Verfügung vom 14.4.2015 einen Antrag auf Erteilung eines Erbscheines gestellt, der sie als Alleinerbin ausweist.

Die Beteiligte zu 2, eine Schwester des Vaters der Erblasserin, hat Einwände gegen die Gültigkeit der vorliegenden Testamente erhoben. Sie hält die letztwilligen Verfügungen der Erblasserin für nicht wirksam. Die Erblasserin sei nicht testierfähig gewesen, außerdem sei sie zum Errichtungszeitpunkt der Testamente nicht in der Lage gewesen, selbst Geschriebenes zu lesen. Unter dem 11.5.2016 hat sie ebenfalls einen Antrag auf Erteilung eines Erbscheines aufgrund gesetzlicher Erbfolge gestellt (Bl. 23 GA).

Das Gericht hat gemäß Beweisbeschlüssen vom 20.9.2016 und 8.12.2016 (Bl. 46, 82, 113 GA) Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 23.11.2016 (Bl. 59ff GA) sowie die schriftlichen Aussagen des Augenarztes Dr. X. verwiesen (Bl. 97f, 123 GA).

Der Erbschein ist für die Beteiligte zu 1 antragsgemäß zu erteilen. Nach Durchführung der Beweisaufnahme kann weder festgestellt werden, dass die Erblasserin testierunfähig war, noch dass sie nicht in der Lage war, ihre unstreitig selbst verfassten letztwilligen Verfügungen selbst zu lesen.

Testierunfähig ist, wer infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche oder Bewusstseinsstörung nicht fähig ist, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Willenserklärungen einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, § 2229 IV BGB. Ausgeschlossen ist eine freie Willensbildung bei einem Wegfall der Fähigkeit zum Handlungsentschluss aufgrund vernünftiger, der allgemeinen Verkehrsauffassung entsprechender Würdigung der gegebenen Verhältnisse infolge des übermächtigen, beherrschenden Einflusses von krankheitsbedingten Vorstellungen, Empfindungen oder der Einflüsse dritter Personen, denen der Betreffende widerstandslos ausgeliefert ist (Staudinger/Knothe, BGB, Neubearbeitung 2004, § 104 Rz. 10). Der Testierende muss sich selbständig und aus eigener Kraft ein Urteil bilden können. Es muss ihm möglich sein, sich an Sachverhalte und Ereignisse zu erinnern, Informationen aufzunehmen, Zusammenhänge zu erfassen und Abwägungen vorzunehmen (vgl. OLG München, Beschluss vom 14.8.2007, 31 Wx 16/07). Im Vordergrund steht dabei die Fähigkeit zum freien Willensentschluss, die verstandesmäßige, intellektuelle Komponente tritt dahinter zurück (BGH NJW 1953, 1342; 1970, 1680).

Da die Testierunfähigkeit als Ausnahmetatbestand von der im Gesetz als Normalfall angesehenen Testierfähigkeit ausgestaltet ist, hat die Testierunfähigkeit nach allgemeinen Grundsätzen derjenige zu behaupten und im Bestreitensfall zu beweisen, der sich auf die Abweichung vom Normalzustand beruft (vgl. BayObLG FamRZ 1996, 1438, 1439 mwN). Im Interesse der Rechtssicherheit sind an den Beweis einer Testierunfähigkeit sehr strenge Anforderungen zu stellen. Insbesondere muss der Ausschluss der freien Willensbildung in vollem Umfang bewiesen werden, das Vorliegen einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit begründet keine tatsächliche Vermutung für einen solchen Ausschluss. Dies gilt auch für denjenigen, für den Betreuung angeordnet ist (OLG Hamm FamRZ 2004, 659). Auch für diesen gilt die Vermutung der Testierfähigkeit. Es kommt im Einzelfall darauf an, aus welchen Gründen die Betreuung angeordnet worden ist. Auf die im Betreuungsverfahren eingeholten Gutachten kann zu diesem Zweck zurückgegriffen werden (vgl. BeckOK BGB/Litzenburger BGB § 2229 Rz 2, beck-online).

Vorliegend wurde im Rahmen des eingeleiteten Betreuungsverfahrens auf Grundlage einer Untersuchung der Erblasserin am 12.3.2012 ein nervenärztliches Gutachten vom Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. C. erstellt (Bl. 28-35 GA). Alle getesteten, geistig-kognitiven Fähigkeiten und der psychische Untersuchungsbefund ergaben keine Auffälligkeiten und waren altersgerecht. Für die Einrichtung einer Betreuung standen jedenfalls 2012 die körperlichen Probleme der Erblasserin im Vordergrund. Die Erblasserin war aufgrund ihres massiven Übergewichts und einer Arthrose in den Knie- und Hüftgelenken bettlägerig. Der Gutachter hält insoweit fest, dass sie deshalb nicht hinreichend in der Lage war, ihre persönlichen Angelegenheiten eigenständig zu regeln. Der Umstand, dass er sie in ihren Gedankengängen auf eigene Überzeugungen und Denkweisen für eingeengt hielt mit der Folge der Minderung ihrer Kritik- und Urteilsfähigkeit, wird demgegenüber nicht als Grund für die Notwendigkeit einer Betreuung angeführt. Im Gegenteil erwähnt der Gutachter ausdrücklich die Fähigkeit der Erblasserin zu einer freien Willensbildung.

Anforderungen an Testierunfähigkeit bei Sehschwäche
(Symbolfoto: Von Robert Kneschke/Shutterstock.com)

Die vom Gericht durchgeführte Beweisaufnahme hat für den der Begutachtung folgenden Zeitraum bis zur Errichtung der beiden letztwilligen Verfügungen keinerlei Anhaltspunkte erbracht, die es gemessen an obigen Maßstäben rechtfertigen, von einer Verschlechterung dieses Zustandes in Bezug auf die Fähigkeit zu einer freien Willensbildung auszugehen. Vielmehr hat sich aufgrund aller Zeugenaussagen das Bild der Erblasserin als einer Person verstärkt, die auf der einen Seite durch die Vielzahl ihrer körperlichen Gebrechen zur Untätigkeit verurteilt war, auf der anderen Seite nie in ihren Versuchen nachgelassen hat, Anteil und auch Einfluss sowohl auf ihre finanziellen Angelegenheiten zu nehmen als auch aufgrund ihrer eigenen, persönlichen Überlegungen, Ansichten zu bilden und Entscheidungen zu treffen. Die bereits 2012 vorhandene Minderung ihrer Kritik- und Einsichtsfähigkeit, die sich insbesondere in der Vorstellung äußerte, eines Tages wieder in ihr Haus zu können, hat dabei sicherlich keine Besserung erfahren, es handelte sich insoweit jedoch nicht um ein Krankheitsbild im Sinne des § 2229 IV BGB. Eine gelegentlich auftretende Vergesslichkeit alleine ist ebenfalls kein hinreichendes Beweiszeichen einer dementiellen Entwicklung, die einer Störung der Geistestätigkeit gleichkommt. Das Gericht geht zudem davon aus, dass die Erbfolge noch zu Lebzeiten der Mutter mit dieser besprochen und damit Gegenstand eines Abwägungsprozesses war. Die Erblasserin hat sie sodann erstmalig ca. 2 Monate nach dem Tod der Mutter schriftlich fixiert. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob die Erwägungen, die die Erblasserin letztlich bewogen haben, dass die väterliche Seite nichts erben sollte, auf sachlich zutreffenden Gründen beruhten oder in sittlicher Hinsicht für Teile der väterlichen Seite nachvollziehbar waren. Auch in diesem Sinne für beteiligte Kreise „falsche“ Entscheidungen gehören zum Kern einer freien Willensentscheidung. Maßgeblich ist ausschließlich, dass die Entscheidung das Ergebnis eines nicht krankhaft bedingten Entscheidungs- und Abwägungsprozesses ist. Einen objektiven Maßstab gibt es nicht und aus Sicht der Beteiligten ungerechte Entscheidungen sind insoweit hinzunehmen.

Nachzugehende Hinweise auf eine Beeinträchtigung durch Medikamentengabe bestehen nach Durchführung der Beweisaufnahme ebenfalls nicht. Angesichts dieser Umstände hält es das Gericht nicht für geboten, zur Frage der Testierunfähigkeit ein Sachverständigen-Gutachten einzuholen.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass die Erblasserin im Sinne des § 2247 IV BGB an der Errichtung eines wirksamen Testamentes gehindert war. Auch hier trifft die Feststellungslast denjenigen, der sich auf diesen Ausnahmetatbestand beruft. Das mag anders sein, wenn von Beginn an die Blindheit feststeht wie in dem Fall, der der von der Beteiligten zu 2 zitierten Rechtsprechung des OLG Schleswig zugrunde lag (Urteil vom 28.8.1969, 2 W 68/69). Davon ist hier indes nicht auszugehen.

Nach Auswertung der vorliegenden Behandlungsunterlagen, den schriftlichen Aussagen des im fraglichen Zeitraumes behandelnden Augenarztes Dr. X. lag 2014 und 2015 zwar eine hochgradige Sehbehinderung der Erblasserin vor. Sie bewegt sich auch unter Heranziehung der allgemeinen Ausführungen des Landschaftsverbandes Rheinland vom 18.7.2013 jedoch nicht in einem Bereich, in dem die Erblasserin als blind zu gelten hatte. Vielmehr ist nach der ergänzenden Aussage des Zeugen Dr. X. davon auszugehen, dass es der Erblasserin jedenfalls mit Hilfsmitteln möglich war, von ihr selbst Geschriebenes zu lesen.

Diese Feststellung stimmt mit den Zeugenaussagen überein. Der Zeuge H. hat bekundet, dass die Erblasserin über eine Lupe verfügte. Darüber hinaus konnte sie seiner Wahrnehmung nach noch lesen. Andernfalls hätte er sich auch wohl kaum der Mühe unterzogen, die Vermögensaufstellungen der Erblasserin in Größe 24 auszudrucken. Der Erblasserin war ihre Sehschwäche im Übrigen sehr bewusst. Sie hat versucht, ihr entgegen zu wirken, indem sie sich etwa für das erste Testament einen dicken Filzschreiber besorgen ließ. Mit der Zeugin L. als behandelnde Psychiaterin hat sie über die Schwierigkeiten der Testamentserrichtung offen gesprochen. Das Gericht ist im Hinblick auf die Persönlichkeit der Erblasserin, wie sie sich nach der Beweisaufnahme darstellt, und aufgrund des bestehenden Vertrauensverhältnisses zu der Zeugin davon überzeugt, dass die Erblasserin einen Kontrollverlust durch die mangelnde Möglichkeit, ihren eigenen Text zu überprüfen, als so schwerwiegend empfunden hätte, dass die Zeugin dies erfahren hätte. Stattdessen hat sie aber – und dies wertet das Gericht als gewichtiges Indiz für die Lesefähigkeit der Erblasserin – im Anschluss und zeitnah zu den Errichtungszeitpunkten beider Verfügungen über deren Inhalt mit der Zeugin gesprochen und ihn zutreffend wiedergegeben. Insbesondere hat sie im Juli 2015 erwähnt, dass die Beteiligte zu 1 das Haus nicht verkaufen dürfe. Das entspricht gegenüber dem ersten Testament genau der getätigten Änderung. Die Zeugin L. hat zwar davon gesprochen, dass die Erblasserin von einer Hilfe des Zeugen H. bei Errichtung des zweiten Testamentes gesprochen hat, von einer körperlichen Anwesenheit zum Errichtungszeitpunkt geht das Gericht aufgrund der Aussage des Zeugen H. jedoch nicht aus.

Geht man von den Schriftstücken selbst aus, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, wie es für eine leseunfähige Person möglich gewesen sein soll, das Wort „Cousine“ zwei Mal durchzustreichen, wie im Testament vom 14.4.2015 geschehen. Die Streichung erforderte nämlich ein zweimaliges Ab- und Neuansetzen des Stiftes. Zwar hat die Erblasserin bei der Streichung übersehen, dass sie das Wort „Meine“ auch hätte durchstreichen müssen, sie hat aber zumindest erkannt, dass sie das Wort Cousine doppelt geschrieben hat. Außerdem hat sie auf Seite 2 des jüngeren Testamentes eine ganz Wortgruppe akkurat gestrichen, was ebenfalls schwerlich möglich gewesen sein dürfte, wenn die Erblasserin nicht in der Lage gewesen wäre, zu erkennen, wo sie wieder ansetzen muss, nachdem sie gut 11 cm oder sogar darüber hinaus Text geschrieben hatte.

Das nicht nachgewiesene Vorhandensein einer Brille, die der Zeuge X. für erforderlich hält, vermag dieses Beweisergebnis nicht zu entkräften, zumal der Rückschluss, dass eine derartige Verschreibung nicht den vorgelegten Behandlungsunterlagen des Augenarztes zu entnehmen ist und die Zeugen eine Brille von sich aus nicht erwähnt haben, deren Vorhandensein nicht zwingend ausschließt. Unter den gegebenen Umständen hält das Gericht auch in Bezug auf die Lesefähigkeit die Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens nicht für geboten.

Da dem Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 1 zu entsprechen ist, muss der Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 2 der Zurückweisung unterliegen, ohne dass es insoweit noch darauf ankommt, dass der Antrag nicht den gesetzlichen Erfordernissen nach § 352 FamFG entspricht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 I FamFG. Sie entspricht billigem Ermessen, da die Beteiligte zu 2 mit ihrem Anliegen unterliegt und keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, die zu ihren Gunsten zu berücksichtigen wären.

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