OLG Koblenz – Az.: 12 U 107/20 – Beschluss vom 03.07.2020
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 19.12.2019, Az. 3 O 400/18, wird zurückgewiesen.
2. Aufgrund der mit – als erteilt geltender – Zustimmung der Beklagten erfolgten teilweisen Klagerücknahme ist das unter Ziff. 1 genannte Urteil in Höhe eines Teilbetrages von 4.500 € nebst anteiliger Zinsen seit dem 24.10.2018 wirkungslos geworden.
3. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
4. Das in Ziffer 1. genannte Urteil des Landgerichts Koblenz und dieser Beschluss sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die gegen sie gerichtete Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 162.929,61 € festgesetzt.
Gründe
Mit ihrer Klage macht die Klägerin Pflichtteilsansprüche gegen die Beklagte geltend. Die Parteien streiten in erster Linie darüber, ob ein in § 7 der testamentarischen Verfügung der Erblasserin zugunsten der Beklagten und deren Ehemann, Herrn …[A], im Wege des Vorvermächtnisses eingeräumtes lebenslanges Wohnungsrecht bei der Berechnung des der Klägerin zustehenden Pflichtteils (§§ 2303, 2306 BGB) in Abzug zu bringen ist oder nicht.
Hinsichtlich der weitergehenden Darstellung des Sach- und Streitstandes sowie der erstinstanzlichen Anträge wird auf den Tatbestand in dem angefochtenen Urteil des Landgerichts Koblenz vom 19.12.2019 Bezug genommen.
Durch diese Entscheidung hat das Landgericht die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 162.929,61 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 125.000,00 € seit dem 03.10.2018 und aus 37.929,61 € seit dem 24.10.2018 zu zahlen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten.
Die Beklagte beantragt, die Klage unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Koblenz vom 19.12.2019 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Der Senat hat mit Hinweisbeschluss vom 20.05.2020 die Parteien darauf hingewiesen, dass der Berufung allenfalls in Höhe eines Teilbetrages von 4.500 € Erfolgsaussichten beizumessen seien und im Falle einer Klagerücknahme in Höhe dieses Teilbetrages ein Vorgehen nach § 522 Abs. 2 ZPO in Betracht komme. Mit Schriftsatz vom 08.06.2020 hat die Klägerin daraufhin die Klage in Höhe des genannten Teilbetrages zurückgenommen. Die teilweise Klagerücknahme ist der Beklagten mit dem Hinweis gemäß § 269 Abs. 2 S. 4 ZPO am 09.06.2020 zugestellt worden, ohne dass diese widersprochen hat.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 19.12.2019, Az. 3 O 400/18, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
Zur Begründung wird auf den vorangegangenen Hinweisbeschluss des Senats vom 20.05.2020 Bezug genommen, an welchem der Senat auch nach nochmaliger Beratung der Sache festhält. Die Ausführungen der Beklagten in der Gegenerklärung vom 29.06.2020 geben zu einer Änderung der rechtlichen Beurteilung keinen Anlass. Auch unter Berücksichtigung dieser weiteren Ausführungen verbleibt der Senat bei seiner Überzeugung, dass das in § 7 der testamentarischen Verfügung der Erblasserin vorrangig zugunsten der Beklagten und deren Ehemann, nachrangig zu Gunsten der Tochter der Beklagten eingeräumte Wohnrecht nicht bei der Berechnung des der Klägerin zustehenden Pflichtteils in Abzug zu bringen ist.
Bei der Ermittlung des Wertes des Nachlasses im Sinne von § 2311 Abs. 1 S. 1 BGB, welcher der Berechnung des Pflichtteils zugrunde gelegt wird, bleiben Vermächtnisse unberücksichtigt (BGH XII ZB 133/12, Beschluss vom 27.08.2014, juris; BGH IV a ZR 97/86, Urteil vom 16.09.1987, juris; Palandt/Weidlich, BGB, 78. Auflage, § 2311 Rn. 4; Soergel/Dieckmann, BGB, 13. Auflage, § 2311, Rn. 15). Dem zugrunde liegt der Gedanke, dass es dem Erblasser nicht möglich sein soll, den Pflichtteilsanspruch durch freigiebige Vermächtnisanordnungen zu schmälern, wenn nicht sogar auszuhöhlen. Im Ergebnis „schlägt“ somit das Pflichtteilsrecht das Vermächtnis.
Soweit die Beklagte in der Gegenerklärung vom 29.06.2020 die Auffassung vertritt, aus dem Beschluss des BGH vom 27.08.2014 (BGH XII ZB 133/12) folge, dass von einer Vorrangigkeit des Pflichtteilsanspruchs gegenüber einem Vermächtnis nur im Falle eines staatlichen Regressanspruchs ausgegangen werden könne, folgt der Senat dem nicht. Zwar lag der Entscheidung tatsächlich ein im Wege des Regresses auf die Staatskasse übergegangener Anspruch zugrunde. Die Gründe des Beschlusses geben aber nichts dafür her, dass der BGH von einer Vorrangigkeit der Pflichtteilsansprüche gegenüber den Vermächtnisansprüchen ausschließlich bei einer solchen Konstellation ausgehen wollte. Gegen einen derart beschränkten Anwendungsbereich spricht bereits, dass sich der BGH unter Randziffer 20 der Entscheidung ausdrücklich von der Besonderheit der dortigen Fallkonstellation (Anspruch der Staatskasse) loslöst und seine früheren, mit dem hier vorliegenden Sachverhalt vergleichbaren Entscheidungen, ausdrücklich bestätigt und zitiert (siehe insoweit den Hinweis auf BGH IV a ZR 97/86, Urteil vom 16.09.1987, juris). Insoweit enthält die Entscheidung vom 27.04.2014 – entgegen der Auffassung der Beklagten – auch den eindeutigen und uneingeschränkten Ausspruch, dass der Pflichtteilsanspruch gegenüber dem Anspruch aus einem Vermächtnis vorrangig ist.
Die Beklagte vertritt in der Gegenerklärung vom 29.06.2020 weiter die Auffassung, nach dem Willen des Gesetzgebers würden Vermächtnisse ausdrücklich zu den berücksichtigungsfähigen Nachlassverbindlichkeiten gehören. Auch dies trifft nach der Überzeugung des Senats nicht zu.
Der Senat verweist in diesem Zusammenhang auf die Regelung des § 1991 Abs. 4 BGB. Auch diese gibt einen deutlichen Richtungshinweis dahingehend, dass das Pflichtteilsrecht dem Vermächtnis vorgeht. Bezüglich der Befriedigung der in § 1991 Abs. 4 BGB aufgezählten Rechte gilt nämlich, dass die Pflichtteilsansprüche im Verhältnis zu Vermächtnissen und Auflagen vorrangig sind (Palandt/Weidlich, BGB, 78. Auflage, § 1991, Rn. 5).
Die Beklagte wendet in der Gegenerklärung vom 29.06.2020 weiter ein, aus Ziffer 3 des Leitsatzes der Entscheidung vom 27.08.2014 ergebe sich, dass der BGH – bei der Berechnung des Nachlasswertes – eine generelle Verfügungsmöglichkeit des Erben über den Nachlassgegenstand verlange. Nur eine solche Verfügbarkeit zur Verwertung stelle auch einen Wert dar. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da die Erbin lediglich ein beschränktes Vorvermächtnis betreffend Wohnung und Hausrat erhalten habe und zusätzlich Dauertestamentsvollstreckung angeordnet worden sei. Die Erbin sei nicht in der Lage, das Objekt zu veräußern oder anderweitig hierüber frei zu verfügen. Auch dem folgt der Senat nicht. Der BGH hat in der Entscheidung vom 27.08.2014 klargestellt (Rn. 23 und Rn. 24 des Beschlusses), Verwertung bedeute jede Art der finanziellen Nutzbarmachung. Eine Immobilie könne daher grundsätzlich nicht nur veräußert, sondern auch beliehen werden, um mit dem Darlehen die entsprechenden Forderungen zu tilgen. Dass eine solche Beleihung vorliegend nicht möglich sein sollte, hat die Beklagte in keiner Weise dargetan. Dem Senat ist auch nicht ersichtlich weshalb es der Beklagten bzw. dem Testamentsvollstrecker, nicht möglich (gewesen) sein soll, ein Darlehen aufzunehmen und dessen grundbuchmäßige Absicherung vor den Wohnrechten eintragen zu lassen.
Die Beklagte kann der Klägerin in diesem Zusammenhang auch nicht die zwischenzeitlich erfolgte grundbuchmäßige Absicherung der Wohnungsrechte erfolgreich entgegenhalten. Nach ihrem eigenen Vortrag hat die Beklagte durch notarielle Urkunde vom 20.11.2018 (vgl. die von ihr vorgelegte Anl. B 2) die Vermächtniserfüllung und Grundbuchberichtigung veranlasst. Dies erfolgte in voller Kenntnis der am 23.10.2018 zugestellten Klage und damit erkennbar in dem Bewusstsein, durch Eintragung der Wohnungsrechte Fakten zu schaffen und den Grundbesitz, aus dessen Wert sich maßgeblich die Klageforderung herleitete, dauerhaft zu „entwerten“. Die Beklagte hat demnach ihre nunmehrige „Unmöglichkeit“ der Beleihung des Grundstücks selbst treuwidrig herbeigeführt. Nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) kann sie sich in diesem Fall daher nicht auf die grundbuchmäßige Absicherung der Wohnrechte (zu Lasten der Klägerin) berufen. Ansonsten wäre es ihr wiederum möglich den Pflichtteilsanspruch der Klägerin vollständig auszuhöhlen.
Etwas anderes gilt auch nicht, wenn der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht in deren Namen, sondern in seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker die Eintragung der Wohnrechte veranlasst haben sollte. Bereits mit Schriftsatz vom 07.11.2018 hatte sich der Prozessbevollmächtigte der Beklagten für diese bestellt und Verteidigungsbereitschaft angezeigt. In der Person des Prozessbevollmächtigten, der gerade in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt auch zum Testamentsvollstrecker bestimmt worden war, lag daher Kenntnis der maßgeblichen Umstände vor, ohne dass hinsichtlich dieser Kenntnis nach den verschiedenen Funktionen des Prozessbevollmächtigten unterschieden werden kann. Als rechtskundigem Testamentsvollstrecker musste ihm bewusst sein, dass der von der Klägerin geltend gemachte Pflichtteilsanspruch Vorrang gegenüber den testamentarisch angeordneten Vermächtnissen genoss, so dass er deren Erfüllung nur unter schuldhafter Verletzung seiner Pflichten vorab veranlassen durfte. Dieses pflichtwidrige Handeln ist der Person des Prozessbevollmächtigten in toto immanent und kann nicht separat einer einzelnen seiner Tätigkeiten zugeordnet werden, so dass sich die Beklagte diese pflichtwidrige Handlung ihres Prozessbevollmächtigten im Verhältnis zur Klägerin zurechnen lassen muss. Auch wenn im Rahmen der notariellen Urkunde vom 20.11.2018 der Prozessbevollmächtigte als Testamentsvollstrecker tätig geworden sein sollte, wäre die Beklagte daher nach Treu und Glauben gehindert, sich gegenüber der Klägerin auf eine nunmehr faktisch nicht mehr mögliche Belastung des Grundbesitzes mit Grundpfandrechten zu berufen.
Soweit die Beklagte in der Gegenerklärung vom 29.06.2020 schließlich erneut die Auffassung vertritt, zum Zeitpunkt des Erbfalles sei der Nachlass – auch im Hinblick auf weitere testamentarische Anordnungen – mit einem Verkehrswert von 0,00 € anzusetzen, folgt auch dem der Senat aus den bereits in dem Hinweisbeschluss vom 20.05.2020 dargelegten Gründen nicht. Wie bereits oben und auch in dem Hinweisbeschluss vom 20.05.2020 ausführlich dargelegt, ist der Pflichtteilsanspruch gegenüber dem Anspruch aus einem Vermächtnis vorrangig. Sollte die von der Beklagten vertretene Auffassung zutreffen, dass das hier zu ihren Gunsten und zugunsten ihres Ehemannes sowie nachfolgend zu Gunsten ihrer Tochter eingeräumte lebenslange Wohnungsrecht zu einer Minderung des Verkehrswertes auf unter 0,00 € führt, würde dieser Grundsatz im Ergebnis vollständig umgekehrt, der Pflichtteilsanspruch würde durch das Vermächtnis vollständig entwertet. Eine solche „Enterbung“ sieht das Gesetz aber nur unter den strengen Voraussetzungen der §§ 2339, 2344, 2345 Abs. 2 BGB vor, deren tatbestandliches Vorliegen weder dargelegt ist noch in sonstiger Weise ersichtlich wäre.
Somit war von einem anzusetzenden Wert der Immobilie in Höhe von 291.000,00 € auszugehen. Diesbezüglich verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen in dem Hinweisbeschluss vom 20.05.2020.
Im Ergebnis bleibt somit die Berufung der Beklagten, soweit über sie aufgrund der von der Klägerin – mit als erteilt geltender Zustimmung der Beklagten – erklärten teilweisen Klagerücknahme noch zu entscheiden war, ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 269 Abs. 3, 92 Abs. 2 ZPO.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird in Anwendung der §§ 47, 48 GKG bestimmt.