Ein vor der späten Ehe verfasstes handschriftliches Testament sorgte für Streit: Ist das gewährte Nutzungsrecht ein Nießbrauch oder eine Vorerbschaft? Die entscheidende Wendung lieferte die späte Heirat des Paares, die überraschend über die Höhe der späteren Erbschaftssteuer entschied.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was passiert mit meinem alten Testament, wenn ich nachträglich heirate?
- Wie kann ich meinen Partner versorgen, aber das Familienvermögen in der Blutlinie halten?
- Wie formuliere ich ein „Nutzungsrecht“ im Testament rechtssicher, um Auslegungsstreit zu vermeiden?
- Was gilt bei einem Erbstreit: der Wortlaut des Testaments oder der mutmaßliche Wille der Erblasserin?
- Ist Nießbrauch steuerlich günstiger als eine Vor- und Nacherbschaft?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 14 U 144/23 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
- Datum: 01.10.2024
- Aktenzeichen: 14 U 144/23
- Verfahren: Berufung
- Rechtsbereiche: Erbrecht, Testamentsauslegung
- Das Problem: Die Nichte der verstorbenen Erblasserin und ihr Lebensgefährte stritten über die Bedeutung eines handschriftlichen Testaments. Die Nichte wollte feststellen lassen, dass der Lebensgefährte nur Vorerbe ist und das Vermögen später an die leibliche Familie zurückfallen muss.
- Die Rechtsfrage: Hat die Erblasserin ihren Lebensgefährten als Vorerben eingesetzt, oder ihm lediglich ein lebenslanges Nutzungsrecht (Nießbrauch) an ihrem gesamten Vermögen vermacht?
- Die Antwort: Nein. Das Gericht wertete die Formulierung im Testament als Nießbrauchsvermächtnis, also als reines Nutzungsrecht. Die Klägerin konnte den notwendigen Willen zur Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft nicht beweisen.
- Die Bedeutung: Der Lebensgefährte ist nicht Vorerbe geworden und war damit erbrechtlich günstiger gestellt. Das Vermögen fällt nach seinem Tod nicht zwingend an die leibliche Familie zurück, sondern folgt der gesetzlichen Erbfolge, welche durch die spätere Heirat stark zugunsten des Lebensgefährten geändert wurde.
Der Fall vor Gericht
Was passiert, wenn ein altes Testament auf eine neue Ehe trifft?
Nach 27 Jahren Lebensgemeinschaft heirateten eine vermögende Frau und ihr Partner. Es war eine späte Krönung ihrer Beziehung. Wenig später verstarb die Frau und hinterließ ein handschriftliches Testament, verfasst acht Jahre vor der Hochzeit.
Die Heirat, die ihre Verbindung besiegeln sollte, wurde zum Zündstoff für einen erbitterten Familienkonflikt. Die Nichte der Verstorbenen zog vor Gericht. Ihre zentrale Frage: Hatte ihre Tante mit der Unterschrift unter der Heiratsurkunde unwissentlich die Weichen für ihr Vermögen komplett neu gestellt – und damit den wahren letzten Willen ausgehebelt?
Welcher Satz löste den Streit um das Vermögen aus?

Der Kern des Konflikts war ein einziger Satz, den die Erblasserin 2011 handschriftlich verfasst hatte: „Ich […] vermache im Falle meines Todes meinem Lebensgefährten […] solange er lebt Nutzungsrecht über mein Vermögen.“ Auf den ersten Blick eine klare Anweisung. Der Partner sollte bis zu seinem Tod aus dem Vermögen – zwei Wohnhäuser und Ländereien – seinen Lebensunterhalt bestreiten können. Doch nach dem Tod der Frau entzündete sich an diesen wenigen Worten eine fundamentale juristische Debatte. Zwei Interpretationen standen sich unvereinbar gegenüber.
Die eine Seite, vertreten durch den Witwer, sah darin ein klares Nießbrauchsvermächtnis. Das ist im Grunde ein lebenslanges Nutzungsrecht. Er dürfte die Früchte des Vermögens ernten, also Mieten einnehmen und darin wohnen. Das Eigentum an der Vermögenssubstanz – den Häusern, dem Land – ginge aber direkt an die gesetzlichen Erben über. Nach der Heirat waren das er selbst zu drei Vierteln und die Nichte der Frau sowie deren Geschwister zu je einem Zwölftel.
Die Nichte vertrat eine radikal andere Sicht. Sie las den Satz als Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft. Ihr Onkel wäre demnach Vorerbe geworden. Er wäre temporärer Eigentümer des gesamten Vermögens geworden, hätte es aber für die Familie erhalten müssen. Nach seinem Tod würde das komplette Erbe dann an die Nacherben fallen – die blutsverwandte Familie der Erblasserin. Der Witwer wäre am Ende leer ausgegangen und hätte das Vermögen nicht an seine eigene Familie weitervererben können.
Warum war die Nichte von einer versteckten Anweisung überzeugt?
Die Nichte baute ihre Klage auf dem mutmaßlichen, wahren Willen ihrer Tante auf. Sie argumentierte, die Erblasserin sei immer darauf bedacht gewesen, das über Generationen aufgebaute Familienvermögen in der eigenen Blutlinie zu halten. Der Lebensgefährte sollte versorgt sein, ja. Aber die Substanz des Erbes sollte niemals in seine Familie übergehen. Mündliche Äußerungen der Tante über die Jahre sollten diese Haltung belegen. Das Testament, aufbewahrt in einer Bibel, sei Ausdruck dieses tiefen Wunsches gewesen.
Ihr juristischer Schachzug war die Forderung nach einer sogenannten ergänzenden Auslegung. Die Tante habe 2011 bei der Abfassung des Testaments eine spätere Heirat nicht auf dem Schirm gehabt. Hätte sie gewusst, dass ihr Partner durch die Ehe plötzlich selbst zum großen gesetzlichen Erben würde, hätte sie die Vor- und Nacherbschaft explizit angeordnet, um ihr Hauptziel – den Vermögenserhalt in der Familie – zu sichern. Das Gericht sollte diese angenommene Lücke im Testament schließen und den Willen der Tante quasi zu Ende denken.
Womit verteidigte sich der Witwer?
Der Witwer hielt die Argumentation der Nichte für eine reine Spekulation. Er pochte auf den klaren Wortlaut. „Nutzungsrecht“ bedeute eben Nutzungsrecht, geregelt als Nießbrauch im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 1030 BGB). Von einer komplizierten Vorerbschaft stehe in dem kurzen Text kein Wort.
Sein entscheidendes Argument war die Heirat selbst. Diese sei kein Zufall gewesen, sondern eine bewusste Entscheidung. Seine Frau sei vor der Eheschließung 2019 anwaltlich beraten worden und kannte die erbrechtlichen Konsequenzen. Sie wusste, dass er als Ehemann einen hohen gesetzlichen Erbteil bekommen würde (§ 1931 BGB). Trotz dieses Wissens änderte sie ihr altes Testament nicht. Dieses Schweigen, so der Witwer, sei eine aktive Bestätigung der neuen Situation. Hätte sie gewollt, dass das Vermögen allein ihrer Familie zufällt, hätte sie nach der Heirat ein neues Testament aufgesetzt.
Wie löste das Gericht den Knoten?
Das Oberlandesgericht Karlsruhe bestätigte das Urteil der Vorinstanz und wies die Berufung der Nichte zurück. Die Richter zerlegten den Fall entlang einer klaren juristischen Logik. Ihre Aufgabe war es, den wirklichen Willen der Erblasserin zu ermitteln, wie es das Gesetz vorschreibt (§ 133 BGB). Diesen Willen mussten sie aber aus den Fakten ableiten, nicht aus Vermutungen.
Der erste Blick galt dem Wortlaut. Die Formulierung „vermache … Nutzungsrecht“ deutet sprachlich eher auf ein Vermächtnis als auf eine Erbeinsetzung hin. Ein Laie mag die Begriffe nicht trennscharf verwenden, doch eine klare Anordnung zur Vorerbschaft sieht anders aus. Für diese Interpretation fehlte ein direkter Anhaltspunkt im Text.
Der zweite Schritt war eine Zeitreise ins Jahr 2011, zum Moment der Testamentserstellung. Damals war der Partner nicht mit der Erblasserin verheiratet. Die gesetzlichen Erben waren ausschließlich ihre Blutsverwandten. Um den Partner zu versorgen und das Vermögen trotzdem in der Familie zu halten, war ein einfaches Nießbrauchsvermächtnis das perfekte, unkomplizierte Instrument. Eine komplexe Vor- und Nacherbschaft war zur Erreichung dieses Ziels gar nicht nötig.
Der dritte und entscheidende Punkt war die Beweislast. Die Nichte behauptete, ihre Tante habe die stärkere rechtliche Konstruktion der Vorerbschaft gewollt. Sie musste diese Behauptung beweisen. Ihre Indizien – angebliche Gespräche, die Aufbewahrung in der Bibel – reichten dem Gericht nicht aus. Der Witwer bestritt die entscheidenden Gespräche. Ohne weitere Beweise stand Aussage gegen Aussage. Die Nichte konnte die Richter nicht überzeugen.
Zuletzt prüfte das Gericht den mutmaßlichen Willen der Erblasserin aus einer wirtschaftlichen Perspektive. Die Erblasserin hatte ihr Vermögen stets selbst und kundig verwaltet. Eine Vor- und Nacherbschaft hat einen massiven Nachteil: Sie löst zweimal Erbschaftssteuer aus (§ 6 ErbStG). Einmal beim Übergang auf den Vorerben und ein zweites Mal beim Übergang auf die Nacherben. Ein Nießbrauch ist steuerlich weitaus günstiger. Das Gericht ging davon aus, dass eine wirtschaftlich vernünftig denkende Person wie die Erblasserin eine doppelte Steuerbelastung für ihr Vermögen hätte vermeiden wollen. Auch dieses starke Indiz sprach gegen die von der Nichte favorisierte Auslegung. Die späte Heirat und das bewusste Unterlassen einer Testamentsänderung zementierten das Ergebnis. Die Klage der Nichte scheiterte.
Die Urteilslogik
Die bewusste Entscheidung, ein Testament nach einer einschneidenden Lebensveränderung wie einer Heirat nicht zu ändern, liefert entscheidende Anhaltspunkte für die Ermittlung des wirklichen Erblasserwillens.
- Der tatsächliche Wille muss beweisbar sein: Wer die Anordnung einer juristisch komplizierten Vor- und Nacherbschaft geltend macht, muss diese Behauptung durch objektive Anhaltspunkte im Testamentswortlaut oder im Gesamtkontext untermauern; Spekulationen über mündliche Äußerungen genügen nicht.
- Wirtschaftliche Vernunft leitet die Auslegung: Gerichte unterstellen dem Erblasser eine steuerlich vernünftige Handlungsweise. Sie wählen bei der Abgrenzung zwischen Nießbrauch und Vorerbschaft die Lösung, die eine doppelte Belastung mit Erbschaftssteuer vermeidet, solange der Testamentswortlaut dies nicht explizit anordnet.
- Konsequentes Schweigen zementiert die Rechtslage: Verfügt ein Erblasser, der die erbrechtlichen Folgen einer Eheschließung kennt, über genügend Zeit, ändert aber sein altes Testament nicht, bestätigt dieses Unterlassen die neue gesetzliche Erbfolge und die damit verbundenen Rechte des Ehepartners.
Die Testamentsauslegung hat demnach stets am klaren Wortlaut sowie an der objektivierbaren Beweislage anzusetzen und wirtschaftliche Logik über bloße mutmaßliche Familieninteressen zu stellen.
Benötigen Sie Hilfe?
Müssen Sie die Abgrenzung zwischen Vorerbschaft und Nießbrauch im Erbrecht klären? Lassen Sie sich unverbindlich beraten und erhalten Sie eine professionelle Ersteinschätzung zu Ihrem Fall.
Experten Kommentar
Wer einmal sein Testament geschrieben hat, denkt oft, der Fall sei erledigt. Doch große Lebensentscheidungen, wie eine späte Heirat, können die juristische Wirkung eines alten Textes komplett auf den Kopf stellen. Das Gericht macht hier klar: Wurde das Testament nach der Eheschließung nicht angepasst, obwohl die Konsequenzen bekannt waren, gilt dieses Schweigen als bewusste Bestätigung des neuen Zustands.
Wer das Vermögen unbedingt für die leibliche Familie sichern will (Vorerbschaft), muss dies explizit anordnen und kann sich nicht darauf verlassen, dass der Richter den ungeschriebenen, mutmaßlichen Willen schon erraten wird – zumal die Konkurrenzlösung (Nießbrauch) steuerlich viel günstiger ist. Dies ist eine klare rote Linie für alle, die glauben, der alte Zettel in der Schublade regele alles.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was passiert mit meinem alten Testament, wenn ich nachträglich heirate?
Die nachträgliche Eheschließung macht Ihr altes Testament nicht automatisch ungültig. Es bleibt grundsätzlich wirksam, aber die gesetzlichen Erbansprüche Ihres neuen Ehepartners treten neben die Verfügungen in Ihrem Dokument. Dadurch verändert sich die Verteilung Ihres Vermögens oft massiv, selbst wenn Sie das Testament nie geändert haben. Dies kann zu einem ungewollten Erbrecht für den neuen Partner führen.
Durch die Eheschließung erwirbt der Ehepartner automatisch einen gesetzlichen Erbteil nach § 1931 BGB. Dieser hohe Anspruch existiert unabhängig davon, welche Personen Sie im bestehenden Testament als Begünstigte eingesetzt hatten. Gerichte müssen daher ermitteln, ob der Erblasser die weitreichenden Konsequenzen der Heirat kannte und trotzdem bewusst keine Testamentsänderung vornahm. Wenn Sie über die neue erbrechtliche Situation informiert waren, interpretiert das Gericht das bloße Unterlassen einer Anpassung als aktive Akzeptanz der neuen Verteilung.
Das größte Risiko liegt im juristischen Konzept des sogenannten beredten Schweigens. Haben Sie nach der Hochzeit absichtlich darauf verzichtet, Ihr handschriftliches Dokument zu aktualisieren, akzeptieren Sie faktisch, dass die neue gesetzliche Erbquote des Partners wirksam wird. Konkret bedeutet das: Ihr Ehepartner erbt je nach Güterstand in der Regel 1/4 oder 1/2 des Vermögens plus möglichen Zugewinnausgleich, was die Quoten Ihrer ursprünglich bedachten Erben stark reduziert.
Suchen Sie Ihr handschriftliches Testament und prüfen Sie sofort, wie die gesetzliche Erbquote Ihres Partners die geplante Verteilung verschiebt.
Wie kann ich meinen Partner versorgen, aber das Familienvermögen in der Blutlinie halten?
Wenn Sie Ihren Partner absichern möchten, ohne dass das über Generationen aufgebaute Vermögen an dessen Familie weitervererbt wird, benötigen Sie eine klare juristische Anordnung. Es stehen Ihnen zwei Hauptoptionen zur Verfügung. Die sicherste Methode, die den Erhalt der Substanz in der Familie garantiert, ist die Vor- und Nacherbschaft. Die steuergünstigere Lösung, die nur die laufende Versorgung sichert, ist das Nießbrauchsvermächtnis.
Die Vor- und Nacherbschaft ist der Mechanismus, den die Blutsverwandten in Erbstreitigkeiten oft wünschen, um die Substanz langfristig zu sichern. Hierbei wird Ihr Partner lediglich zum temporären Eigentümer (Vorerbe) des gesamten Nachlasses eingesetzt. Er muss das Vermögen für die späteren Erben (Nacherben), also Ihre Blutlinie, erhalten. Nach dem Tod des Vorerben fällt der gesamte Besitz automatisch an die Nacherben. Diese bindende Regelung schließt eine Weitergabe an familienfremde Dritte wirksam aus.
Im Gegensatz dazu gewährt das Nießbrauchsvermächtnis dem Partner lediglich lebenslange Nutzungsrechte an den Vermögensgegenständen. Er erhält Erträge wie Mieten oder darf darin wohnen, wird aber nicht Eigentümer der Substanz selbst. Das Eigentum geht sofort an Ihre Kinder oder Blutsverwandten über. Dieses Modell gilt als steuerlich vorteilhaft, da die Erbschaftsteuer nur einmal anfällt. Um den Familienvermögenswillen zu sichern, muss die Vor- und Nacherbschaft explizit im Testament angeordnet werden.
Treffen Sie die Entscheidung, ob die maximale Steuerersparnis oder der absolute Verbleib des Vermögens in der Blutlinie die höchste Priorität hat, und wählen Sie danach die präzise juristische Form.
Wie formuliere ich ein „Nutzungsrecht“ im Testament rechtssicher, um Auslegungsstreit zu vermeiden?
Verzichten Sie in Ihrem handschriftlichen Testament unbedingt auf das vage Wort „Nutzungsrecht“, da es regelmäßig zu kostspieligen Auslegungsstreitigkeiten führt. Nutzen Sie stattdessen die klaren gesetzlichen Begriffe, um den letzten Willen rechtssicher festzuhalten. Sie wählen entweder das Nießbrauchsvermächtnis oder die Vor- und Nacherbschaft.
Der Streit entsteht, weil die Formulierung „vermache … Nutzungsrecht“ nicht trennscharf genug ist, um die komplexere Vorerbschaft auszuschließen. Fehlende juristische Fachbegriffe laden zur sogenannten ergänzenden Auslegung ein. Das Gericht muss dann den mutmaßlichen Willen der Erblasserin mühsam rekonstruieren, weil der Wortlaut keinen eindeutigen Anhaltspunkt liefert. Diese Unsicherheit kann sich über Jahre hinziehen.
Ist der Wille nicht explizit erkennbar, tendiert das Gericht zur einfacheren, unkomplizierten Lösung, dem Nießbrauch. Möchten Sie lediglich die lebenslange Versorgung des Partners sichern, ohne ihm das Eigentum zu übertragen, schreiben Sie: ‚Ich vermache [Name] das Nießbrauchsvermächtnis gemäß § 1030 BGB.‘ Wollen Sie dagegen sicherstellen, dass das Vermögen danach vollständig an die eigene Familie fällt, ordnen Sie zwingend explizit die Vor- und Nacherbschaft an.
Streichen Sie alle Adjektive und Vagheiten aus Ihrer Formulierung und ersetzen Sie diese durch einen der beiden klaren Fachbegriffe.
Was gilt bei einem Erbstreit: der Wortlaut des Testaments oder der mutmaßliche Wille der Erblasserin?
Im Erbrecht hat der wirkliche Wille der Erblasserin gemäß § 133 BGB höchste Priorität. Dieser wahre Wille setzt sich theoretisch über den trockenen Wortlaut des Testaments hinweg. Gerichte beginnen die Auslegung jedoch immer beim geschriebenen Text. Sie dürfen erst dann den mutmaßlichen Willen ermitteln, wenn der Wortlaut Unklarheiten aufweist oder die ursprüngliche Anordnung ergänzt werden muss.
Der Gesetzgeber verlangt eine strenge Herangehensweise, um größtmögliche Rechtssicherheit zu gewährleisten. Das Nachlassgericht prüft zuerst den klaren Wortlaut und die verwendeten juristischen Begriffe, um Interpretationen von vornherein auszuschließen. Erst wenn diese Formulierung Zweifel aufkommen lässt oder eine unbeabsichtigte Lücke aufweist, kommt die sogenannte ergänzende Auslegung ins Spiel. Die Partei, die von einem abweichenden Willen überzeugt ist, trägt die Beweislast.
Bloße Vermutungen oder lediglich angebliche, schwer nachprüfbare Gespräche sind als beweisbare Fakten vor Gericht meist unzureichend. Wenn die Gegenpartei mündliche Abmachungen bestreitet, steht schnell Aussage gegen Aussage. Ohne stichhaltige, externe Indizien wie Briefe, E-Mails oder unbestrittene Zeugenaussagen bleibt es beim klaren, schriftlichen Testamentstext. Gerichte sind zurückhaltend, einen eindeutigen Wortlaut durch emotionale oder traditionelle Argumente zu korrigieren.
Sichern Sie daher sofort alle externen Belege, die den angeblich wahren Willen belegen, denn ohne materielle Beweise setzt sich der Wortlaut des Testaments durch.
Ist Nießbrauch steuerlich günstiger als eine Vor- und Nacherbschaft?
Ja, das Nießbrauchsvermächtnis ist steuerlich klar günstiger als die Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft. Die Vor- und Nacherbschaft hat den massiven Nachteil, dass sie nach § 6 ErbStG zweimal Erbschaftsteuer auslöst: einmal beim Vorerben und ein zweites Mal beim Nacherben. Ein Nießbrauchsvermächtnis hingegen stellt nur eine einmalige Belastung des Vermögens dar und mindert die Bemessungsgrundlage der eigentlichen Erben.
Die Vor- und Nacherbschaft wird rechtlich als zwei aufeinanderfolgende Erbfälle behandelt. Wenn der Vorerbe stirbt, muss der Nacherbe das gesamte Vermögen erneut versteuern, obwohl die Substanz im Grunde nicht neu erworben wurde. Dies führt oft zu einer erheblichen Belastung, besonders wenn die Freibeträge der Nacherben (beispielsweise bei entfernten Verwandten) gering sind. Eine wirtschaftlich denkende Erblasserin vermeidet diese unnötige Doppelbesteuerung.
Der Nießbrauch ist steuerlich vorteilhaft, weil der kapitalisierte Wert des Nutzungsrechts von der Steuerlast der tatsächlichen Eigentümer abgezogen wird. Dies verringert die Höhe des zu versteuernden Erbes und senkt somit die Steuerschuld der Erben. Im Rahmen einer Testamentsauslegung kann die Vermeidung doppelter Steuerbelastungen sogar als starkes Indiz für den mutmaßlichen Willen der Erblasserin herangezogen werden.
Berechnen Sie den geschätzten Kapitalwert des Nießbrauchs und vergleichen Sie diesen sofort mit den Freibeträgen aller potenziellen Vorerben und Nacherben.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.

Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Beredtes Schweigen
Beredtes Schweigen ist ein juristisches Konzept, bei dem das bewusste Unterlassen einer notwendigen Handlung – wie die Nichtänderung eines Testaments – als aktive Akzeptanz einer neuen, eingetretenen Rechtslage interpretiert wird. Dieses Prinzip kommt zur Anwendung, wenn der Erblasser eine neue Situation (z.B. eine Heirat) kannte und trotzdem darauf verzichtete, seinen alten letzten Willen anzupassen. Das Gericht schließt aus diesem Schweigen auf den aktuellen, gewollten Rechtszustand.
Beispiel:
Da die Erblasserin nach der Eheschließung anwaltlichen Rat einholte und das handschriftliche Testament bewusst nicht änderte, interpretierte das Gericht dieses beredte Schweigen als aktive Bestätigung der neuen gesetzlichen Erbquote des Witwers.
Beweislast
Juristen verstehen unter der Beweislast die Pflicht einer Partei, Tatsachen, die ihr im Prozess zugutekommen, mit stichhaltigen Fakten und Indizien vor Gericht zu belegen. Das Gesetz verteilt die Verantwortung fair, denn wer etwas Außergewöhnliches behauptet – wie einen vom Wortlaut abweichenden wahren Willen – muss das auch beweisen können, um Rechtssicherheit zu gewährleisten.
Beispiel:
Die Nichte trug die Beweislast dafür, dass ihre Tante trotz der vagen Formulierung eigentlich eine Vor- und Nacherbschaft gewollt hatte, konnte diese Behauptung aber nicht mit unbestrittenen, externen Beweisen belegen.
Ergänzende Auslegung
Die ergänzende Auslegung ermöglicht es dem Gericht, Lücken in einem Testament zu füllen, indem es feststellt, was der Erblasser gewollt hätte, wenn er die später eingetretene Situation (zum Beispiel eine Eheschließung) vorausgesehen hätte. Mit dieser Methode wird versucht, den mutmaßlichen Willen des Erblassers zu Ende zu denken, um den ursprünglichen Zweck des Testaments, der durch unvorhergesehene Ereignisse gefährdet wurde, noch zu retten.
Beispiel:
Die Nichte forderte eine ergänzende Auslegung des Testaments, da die Erblasserin im Jahr 2011 die weitreichenden erbrechtlichen Konsequenzen einer späteren Heirat nicht antizipiert haben konnte.
Nießbrauchsvermächtnis
Ein Nießbrauchsvermächtnis (§ 1030 BGB) ist die testamentarische Anordnung eines lebenslangen Nutzungsrechts an Vermögensgegenständen, wobei der Begünstigte lediglich Mieten oder Erträge ziehen darf, ohne Eigentümer der Substanz zu werden. Dieses juristische Instrument bietet eine steuerlich günstige Möglichkeit, einen Partner abzusichern, während das Eigentum an den Häusern oder dem Land sofort auf die eigentlichen Erben übergeht.
Beispiel:
Der Witwer interpretierte den kurzen Satz im Testament als klares Nießbrauchsvermächtnis, das ihm lebenslang das Recht einräumte, die Erträge aus den zwei Wohnhäusern und den Ländereien zu erhalten.
Vor- und Nacherbschaft
Diese komplexe Konstruktion regelt zwei zeitlich aufeinanderfolgende Erbfälle, bei denen der Vorerbe nur temporärer Eigentümer des Nachlasses wird und die Vermögenssubstanz zwingend für die Nacherben (typischerweise die Blutsverwandten) erhalten muss. Juristen nutzen die Vor- und Nacherbschaft primär, um zu garantieren, dass das Familienvermögen die sogenannte Blutlinie nicht verlässt und nach dem Tod des Vorerben automatisch an die Nacherben fällt.
Beispiel:
Die Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft hätte den massiven Nachteil mit sich gebracht, dass das Vermögen zweimal Erbschaftsteuer ausgelöst hätte, was das Gericht als Indiz gegen diesen mutmaßlichen Willen wertete.
Wirkliche Wille des Erblassers
Nach § 133 BGB gilt der wirkliche Wille des Erblassers als oberste Interpretationsmaxime im Erbrecht und setzt sich theoretisch über einen missverständlichen Wortlaut im Testament hinweg. Gerichte müssen daher zunächst alle verfügbaren Indizien prüfen, um den tatsächlichen Wunsch des Verstorbenen zu ermitteln, selbst wenn Laien bei der Abfassung keine juristisch präzisen Begriffe verwendet haben.
Beispiel:
Das Oberlandesgericht Karlsruhe musste anhand der Faktenlage den wirklichen Willen der Erblasserin zum Zeitpunkt der Testamentserstellung ermitteln und diesen von bloßen Vermutungen der Nichte abgrenzen.
Das vorliegende Urteil
OLG Karlsruhe – Az.: 14 U 144/23 – Urteil vom 01.10.2024
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Dr. jur. Christian Gerd Kotz ist Notar in Kreuztal und seit 2003 Rechtsanwalt. Als versierter Erbrechtsexperte gestaltet er Testamente, Erbverträge und begleitet Erbstreitigkeiten. Zwei Fachanwaltschaften in Verkehrs‑ und Versicherungsrecht runden sein Profil ab – praxisnah, durchsetzungsstark und bundesweit für Mandanten im Einsatz.
