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Testamentsauslegung bei Vorversterben aller Verwandten

Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 3 Wx 113/15 – Beschluss vom 18.05.2016

Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 1) wird der Beschluss des Amtsgerichts – Nachlassgericht – Lübeck vom 06.10.2015 aufgehoben.

Das Amtsgericht wird angewiesen, der Beteiligten zu 1) den beantragten Erbschein zu erteilen.

Eine Kostenerstattung wird nicht angeordnet. Die Gerichtkosten des ersten Rechtszuges trägt die Beteiligte zu 1). Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben.

Der Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 120.000,00 €.

Gründe

I.

Frau A, nachfolgend Erblasserin genannt, war mit B verheiratet. Die Erblasserin hatte keine Kinder. Die Beteiligten zu 1) und 2) sind Kinder des vorverstorbenen Ehemanns B aus dessen erster Ehe.

Die Erblasserin und ihr Ehemann errichteten am 07.06.1973 ein notarielles gemeinschaftliches Testament. Darin traf die Erblasserin folgende Verfügungen:

„Ich, die Erschienene zu 2), setze hiermit für den Fall, dass ich als erste versterbe, meinen Ehemann zum unbeschränkten Alleinerben ein.

Sollte er vor mir versterben, behalte ich mir weitere letztwillige Verfügungen vor.“

Der Ehemann setzte darin die Erblasserin als befreite Vorerbin und seine Kinder, die Beteiligten zu 1) und 2), als Nacherben ein. Für seine als Nacherben berufenen Kinder bestimmte er eine Pflichtteilstrafklausel für den Fall, dass einer von ihnen nach seinem Ableben Pflichtteilsansprüche gegen die Erblasserin geltend machen sollte.

Die Schwester der Erblasserin, Frau C, verstarb am 23.07.2004 kinderlos. Weitere nahe Verwandte hatte die Erblasserin nicht.

Der Ehemann der Erblasserin verstarb am 12.01.2005.

Die Erblasserin verstarb am 10.04.2015. Ihr Nachlass besteht im Wesentlichen aus dem Hausgrundstück …, das sie zusammen mit ihrer Schwester im Jahr 1966 von ihrer Mutter geerbt hatte und sodann von ihrer Schwester allein zu Eigentum übernommen hatte.

Die Beteiligte zu 1) hat mit notarieller Erklärung vom 6.07.2015 die Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins beantragt, der sie und die Beteiligte zu 2) als Erben zu je 1/2 ausweist. Sie hat vorgetragen, das gemeinschaftliche Testament vom 07.06.1973 sei nach dem Willen der Erblasserin ergänzend dahin auszulegen, dass ihre beiden Stieftöchter, die Beteiligten zu 1) und 2), als Ersatzerben des Ehemannes in dem Fall berufen sein sollten, wenn sie diesen überleben sollte. Sie, die Beteiligte zu 1), habe zur Erblasserin ein herzliches und enges Verhältnis gehabt habe, so als wäre sie ihre leibliche Mutter gewesen. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 2005 habe sie sie ein- bis zweimal wöchentlich besucht und ihr in den letzten 12 Monaten vor ihrem Ableben auch bei der Körperpflege geholfen. Die Erblasserin sei immer davon ausgegangen, dass sie nach dem Testament von ihren Stieftöchtern beerbt werde. Sie habe dieses mehrfach geäußert. Sie habe sogar mit dem Gedanken gespielt, sie, die Beteiligte zu 1), als Alleinerbin einzusetzen, weil sie sich besonders um die Erblasserin gekümmert habe. Die Erblasserin habe keine lebenden Verwandten mehr.

Das Amtsgericht hat den Erbscheinantrag der Beteiligten zu 1) mit Beschluss vom 06.10.2015 zurückgewiesen. In dem Beschluss heißt es, für die Auslegung des notariellen Testamentes vom 07.06.1973 sei allein der Wille der Erblasserin bei Errichtung des Testaments maßgebend. Die Erblasserin habe nur eine Erbeinsetzung für den Fall vorgenommen, dass sie vor ihrem Ehemann versterben sollte. Für den Fall eines Nachversterbens habe sie sich ausdrücklich eine weitere letztwillige Verfügung vorbehalten. Bei dieser Sachlage komme eine ergänzende Auslegung, wie sie von der Beteiligten zu 1) vertreten werde, nicht in Betracht.

Ein später geäußerter Wille der Erblasserin dahin, dass die Beteiligten als Kinder des vorverstorbenen Ehemann Erben sein sollten, sei unerheblich, weil es an einer formgerechten Testierung dieses Willens fehlt.

Der das Testament beurkundende Notar habe mit der Erblasserin über den Fall ihres Nachversterbens gesprochen. Sie habe zum damaligen Zeitpunkt keine Entscheidung treffen wollen. Eine bewusste Lücke im Testament könne nicht durch Auslegung geschlossen werden.

Außerdem sprächen die Tatsachen, dass die Erblasserin eine Schwester gehabt habe und der Nachlass im Wesentlichen aus ihrem Elternhaus bestanden habe, dafür, dass sie sich bei Testamentserrichtung bewusst für keine Erbeinsetzung für den Fall entschieden habe, dass sie nach ihrem Ehemann versterben sollte.

Dass sie den konkreten Inhalt des viele Jahre zurückliegenden Testamentes vergessen habe und aus diesem Grunde kein weiteres Testament verfasst habe, begründe keinen Raum für eine Auslegung.

Gegen diesen Beschluss hat die Beteiligte zu 1) Beschwerde eingelegt. Sie trägt vor, das Amtsgericht habe unterstellt, dass der das Testament vom 07.06.1973 beurkundende Notar mit der Erblasserin über den Fall des Nachversterbens gesprochen habe. Davon könne aber nicht mit Sicherheit ausgegangen werden. Dagegen spreche, dass die Erblasserin zu Lebzeiten wiederholt erklärt habe, dass sie eigentlich die Beteiligte zu 1) zur Alleinerbin berufen wolle, aber dass „…“, ihr Ehemann, dies nicht gewollt habe und dass nunmehr alles so kommen solle, wie „…“ es gewollt habe, nämlich dass beide Töchter des verstorbenen Ehemanns erben sollten. Es könne nicht angenommen werden, dass die Erblasserin bewusst keine Regelung für den Fall ihres Nachversterbens habe treffen wollen. Die Schwester der Erblasserin sei am 23.07.2004 verstorben, d.h. vor dem Ehemann der Erblasserin, der Anfang 2005 verstorben sei. Mit dem Ableben der Schwester sei klar gewesen, dass es keine nahestehenden Verwandten mehr gegeben habe, die als ihre gesetzlichen Erben in Betracht gekommen wären. Die Tatsache, dass sie in dieser Situation kein neues Testament errichtet habe, spreche dafür, dass sie die Beteiligten als ihre Erben gesehen habe. Denn es könne nicht unterstellt werden, dass sie den Staat als Erben gewollt habe. Weitergehend sei zu berücksichtigen, dass die Erblasserin nach dem Ableben ihrer Eltern ihre Schwester hinsichtlich des Hauses ausgezahlt habe und zwar mit Mitteln ihres Ehemannes. Der Ehemann sei der alleinige Verdiener in der Ehe gewesen. Deswegen habe es keinen Grund für die Erblasserin gegeben, das Haus ihrer Schwester zu hinterlassen. Nach den vorgenannten Umständen sei es klar gewesen, dass die Kinder ihres Ehemannes nach dem Willen der Erblasserin ihre Erben sein sollten.

Die Beteiligte zu 1) hat eine eidesstattliche Versicherung ihres Ehemanns X vom 24.10.2015 (Bl. 79 d.A.) vorgelegt. Darin erklärt er, dass die Erblasserin mehrfach in ihren letzten 8 Jahren geäußert habe, dass sie gerne alles der Beteiligten zu 1) als Erbin hinterlassen, weil diese sie immer unterstützt habe. Aber dies sei nicht im Sinne von „…“, ihrem Ehemann. Er und sie hätten gewollt, dass die beiden Beteiligten sich das gesamte Erbe teilen. Dies beinhalte das hinterlegte Testament. Deswegen habe die Erblasserin keine Änderung des Testaments gewollt.

II.

Die zulässige Beschwerde der Beteiligten zu 1) ist begründet.

Das Testament vom 07.06.1973 ist – abweichend vom Amtsgericht – ergänzend dahin auszulegen, dass die beiden Beteiligten als Kinder des vorverstorbenen Ehemannes der Erblasserin, der für den Fall ihres Vorversterbens als ihr Alleinerbe berufen war, als Erben zu je 1/2 berufen sind.

Im Ausgang ist festzustellen, dass die Erblasserin im Testament eine Erbeinsetzung für den Fall ihres Nachversterbens nicht getroffen hat. Dies ist auch von ihr bewusst geschehen. Denn dazu ist ausdrücklich etwas von ihr im Testament bestimmt worden, nämlich dass sie sich für diesen Fall „weitere letztwillige Verfügungen“ vorbehält. Auf die umstrittene Frage, ob der das Testament beurkundende Notar mit der Erblasserin über den Fall ihres Nachversterbens gesprochen hat, kommt es nicht an. Denn allein aus der genannten Formulierung folgt, dass sie für den genannten Fall bewusst keine Regelung zu ihrer Erbfolge getroffen hat.

Hieraus hat das Amtsgericht geschlossen, dass das Testament keine planwidrige Lücke enthalte, die durch ergänzende Auslegung geschlossen werden könne, sondern dass eine bewusste Nichtregelung vorliegen soll, die nicht durch Auslegung geschlossen werden könne. Dabei ist unbedacht geblieben, dass die bewusste Nichtregelung ihrer Erbfolge im Fall ihres Nachversterbens auch eine Regelung beinhaltet, nämlich die Regelung, dass solchenfalls gesetzliche Erbfolge gelten soll, sofern die Erblasserin nicht noch anders letztwillig verfügt, was sie sich ausdrücklich vorbehalten hat.

Diese für den Fall ihres Nachversterbens getroffene Regelung – es soll gesetzliche Erfolge gelten (vorbehaltlich einer anderen letztwilligen Verfügung) – hat sich nachträglich durch ein weder von der Erblasserin vorhergesehenes noch bedachtes Ereignis, nämlich das Ableben ihrer kinderlos gebliebenen Schwester C am 23.07.2004 als fehler- und lückenhaft erwiesen. Dies gilt insbesondere auch deswegen, weil keine anderen nahestehenden Verwandten, die als gesetzliche Erben in Betracht kommen können, vorhanden sind. Es ist vielmehr zu erwarten, dass ohne eine Auslegung des Testaments zu Gunsten der Beteiligten der Staat Erbe sein wird.

Daraus folgt, dass – abweichend vom Amtsgericht – mit dem Ableben der Schwester der Erblasserin am 23.07.2004 eine planwidrige Lücke im Testament vom 07.06.1973 vorgelegen hat, die eine ergänzende Auslegung erlaubt. Denn es ist anerkannt, dass Lücken, die nachträglich durch Veränderungen zwischen Testamentserrichtung und Erbfall eingetreten sind und vom Erblasser weder vorhergesehen noch bedacht worden sind, durch eine ergänzende Auslegung geschlossen werden können (Palandt/Weidlich, BGB, 75. Aufl., § 2084 Rn. 8 mwN.).

Wenn die Erblasserin den Fall vorhergesehen und bedacht hätte, dass ihre Schwester (noch vor ihrem vorverstorbenen Ehemann) verstirbt und andere nahe Verwandte, die als gesetzliche Erben in Betracht kommen, nicht vorhanden sind, hätte sie für den Fall ihres Nachversterbens die beiden Kinder ihres Ehemanns, die Beteiligten zu 1) und 2), als ihre Erben berufen. Dieser Wille der Erblasserin folgt daraus, dass sie im Fall ihres Vorversterbens ihren Ehemann als ihren Alleinerben berufen hat und dass die Beteiligten, insbesondere die Beteiligte zu 1) ihr nahe standen.

Entscheidend dafür ist, dass die Erblasserin sich in ihren letzten Lebensjahren wiederholt dahin geäußert hat, dass die beiden Beteiligten sie aufgrund des gemeinschaftlichen Testaments – entsprechend dem Willen ihres vorverstorbenen Ehemanns und ihres Willen – beerben würden und dass sie deswegen das Testament nicht ändern wolle. Diese Äußerungen der Erblasserin sind durch die Angaben der Beteiligten zu 1) sowie durch die vorgelegte eidesstattliche Versicherung des Ehemanns der Beteiligten zu 1) X vom 24.10.2015 nachgewiesen. Die eidesstattliche Versicherung ist im Freibeweisverfahren ein Beweismittel (§ 29 FamFG; Keidel/Sternal, FamFG, 18. Aufl., § 29 Rn. 21). Herr X hat in der eidesstattlichen Versicherung konkret und nachvollziehbar angegeben, dass die Erblasserin in ihren letzten 8 Lebensjahren wiederholt geäußert habe, dass ihr Ehemann und sie gewollt hätten, dass die beiden Töchter des Ehemanns sich das gesamte Erbe teilen sollten. Dabei sei sie davon ausgegangen, dass das hinterlegte Testament die Erbfolge entsprechend diesem Willen regele. Deswegen habe sie keine Änderung des Testaments gewollt. Diese Angaben von Herrn X erscheinen für sich und nach den Umständen glaubhaft.

Die erforderliche Andeutung der Erbeinsetzung der beiden Beteiligten in dem Testament vom 7.06.1973 durch die Erblasserin im Fall ihres Nachversterbens liegt in der Berufung des Ehemanns als Alleinerbe im Fall ihres Vorversterbens und in dem Umstand, dass sie die Kinder des Ehemanns sind. Dass diese Umstände ausreichen, um eine hinreichende Andeutung im Testament anzunehmen, entspricht der Rechtsprechung des Senats zur Ersatzerbenberufung von Abkömmlingen des vorzeitig weggefallenen bedachten Alleinerbens (Beschluss vom 30.09.2011, Aktenzeichen 3 Wx 128/10, FamRZ 2012, 666 ff; Beschluss vom 10.06.2013, Aktenzeichen 3 Wx 15713 FamRZ 2014, 693 ff).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 FamFG. Dass die Beteiligte zu 1) die Gerichtskosten des erstinstanzlichen Verfahrens trägt, entspricht der gesetzlichen Regel, wonach der Antragsteller die Gerichtskosten zu tragen hat (§ 22 Abs. 1 GNotKG). Es erschien sachgerecht, Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren nicht zu erheben. Die Anordnung einer Kostenerstattung ist nicht veranlasst, weil die Beteiligte zu 2) im Beschwerdeverfahren nicht hervorgetreten ist.

Die Festsetzung des Geschäftswerts folgt aus §§ 61, 40 GNotKG. Danach entspricht der Geschäftswert dem Wert des Nachlasses zur Zeit des Erbfalls unter Berücksichtigung der vom Erblasser herrührenden Verbindlichkeiten. Vorliegend ist der reine Nachlasswert im Erbscheinantrag mit 120.000,00 € angegeben worden.

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