Nach dem Tod des Vaters sollte der Sohn den Hof als Nacherbe bekommen, doch die Klausel zur Umdeutung einer unwirksamen Nacherbenbestimmung entzündete einen Erbschaftsstreit. Das OLG Hamm erklärte die Regelung zwar für nichtig, doch diese Unwirksamkeit führte paradoxerweise zur massiven Stärkung der Witwe.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Welche objektiven Kriterien sind nötig, um die Nacherben-Auswahl rechtlich zulässig zu delegieren?
- Welche Rechte hat der Nacherbe, um das Erbe vor der Veräußerung durch den Vorerben zu schützen?
- Wer erbt nach einer Umdeutung zur Vollerbschaft, wenn der Vollerbe kein neues Testament errichtet?
- Welche Fristen gelten für mich, wenn ich die Unwirksamkeit einer Testamentsklausel geltend machen möchte?
- Welche rechtssichere Testamentsform garantiert dem überlebenden Ehegatten die größtmögliche Flexibilität?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 10 W 23/24 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Hamm
- Datum: 09. Januar 2025
- Aktenzeichen: 10 W 23/24
- Verfahren: Beschwerdeverfahren
- Rechtsbereiche: Erbrecht, Zivilrecht
- Das Problem: Zwei Geschwister stritten sich um das Erbe ihres Vaters. Der Vater hatte seiner Frau erlaubt, den endgültigen Erben unter den Kindern selbst auszuwählen. Der Sohn sah sich als Alleinerbe und hielt diese Erlaubnis für unwirksam.
- Die Rechtsfrage: Kann eine im Testament unwirksame Anordnung, die dem überlebenden Ehegatten die Wahl des Nacherben überlässt, so umgedeutet werden, dass dieser Ehegatte stattdessen Vollerbe wird?
- Die Antwort: Ja. Die Erlaubnis zur freien Nacherbenwahl war unwirksam, weil dem Ehegatten keine objektiven Auswahlkriterien vorgegeben wurden. Das Gericht deutete das gesamte Testament jedoch um: Wegen der sehr weitreichenden Verfügungsrechte war die Ehefrau als Vollerbin des Mannes anzusehen. Dadurch wurde ihr späteres Testament zugunsten der Tochter wirksam.
- Die Bedeutung: Ein Testament bleibt gültig, auch wenn einzelne Anordnungen unwirksam sind. Gerichte prüfen, welchen wirtschaftlichen Zweck der Erblasser wirklich verfolgte, um das Testament entsprechend neu zu interpretieren.
Der Fall vor Gericht
Was machte die Klausel im Testament des Vaters so problematisch?
Im Testament eines Vaters stand ein Satz, der auf den ersten Blick klar schien: Seine Frau sollte als Vorerbin eingesetzt werden, sein Sohn als Nacherbe. Doch eine kleine Klausel gab der Frau die Macht, den Nacherben später noch auszutauschen. Der Sohn hielt diese Klausel für rechtswidrig und sah sich schon als sicheren Erben. Er übersah, dass im deutschen Erbrecht manchmal ein unwirksamer Plan B zu einem völlig neuen Plan C führen kann – mit einem überraschenden Ergebnis für seine Schwester.

Der Kern des Problems lag in einer Bestimmung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Das Gesetz verlangt in § 2065 BGB, dass ein Erblasser seine Erben grundsätzlich höchstpersönlich bestimmen muss. Er darf diese zentrale Entscheidung nicht einfach einem Dritten überlassen. Eine Ausnahme ist nur dann denkbar, wenn der Erblasser die Auswahl so stark eingrenzt, dass dem Dritten kein eigener Willensspielraum mehr bleibt. Er müsste nicht nur den Personenkreis festlegen – wie hier die „Abkömmlinge“ –, sondern auch klare, objektive Kriterien für die Auswahl vorgeben. Das könnten Kriterien sein wie „derjenige, der den Hof weiterführt“ oder „derjenige mit der besten landwirtschaftlichen Ausbildung“.
Genau diese sachlichen Kriterien fehlten im Testament des Vaters. Er ermächtigte seine Frau, den Nacherben „anderweitig zu bestimmen“, ohne einen Maßstab für diese Entscheidung zu liefern. Damit überließ er ihr eine willkürliche Wahl. Das Oberlandesgericht Hamm stellte fest: Diese Ermächtigung war unwirksam. Sie verstieß gegen das Verbot, die Erbenbestimmung zu delegieren.
Warum wurde der Sohn trotz der ungültigen Klausel nicht automatisch Nacherbe?
Der Sohn ging von einer einfachen Logik aus: Ist die Klausel zur Änderung des Nacherben ungültig, muss die ursprüngliche Regelung gelten. Er wäre Nacherbe. Doch das Gericht folgte diesem Weg nicht. Es wählte stattdessen ein juristisches Werkzeug namens Umdeutung, geregelt in § 140 BGB.
Die Umdeutung funktioniert wie ein Rettungsanker für einen missglückten Plan. Ein Gericht fragt sich: Wenn der Erblasser gewusst hätte, dass seine Anordnung unwirksam ist, was hätte er stattdessen gewollt, um ein wirtschaftlich ähnliches Ziel zu erreichen? Der Wille des Erblassers war offensichtlich, seiner Frau die größtmögliche Flexibilität und Kontrolle über den Nachlass zu geben. Sie sollte die Zügel in der Hand halten und auf zukünftige Entwicklungen reagieren können.
Die unwirksame Ermächtigung war sein Versuch, dieses Ziel zu erreichen. Da dieser Versuch scheiterte, suchte das Gericht nach einem legalen Weg, der dem Willen des Vaters am nächsten kam. Dieser Weg war, die Ehefrau nicht nur als beschränkte Vorerbin, sondern als uneingeschränkte Vollerbin zu betrachten. Als Vollerbin hätte sie die volle Verfügungsgewalt gehabt und hätte selbst entscheiden können, wer nach ihr erbt. Damit wäre das vom Erblasser beabsichtigte Ziel der Flexibilität auf einem rechtlich sauberen Weg erreicht worden.
Wieso sah das Gericht genügend Hinweise für eine solche Umdeutung?
Eine Umdeutung darf ein Gericht nicht aus dem Nichts erschaffen. Es muss im Testament selbst handfeste Anhaltspunkte finden, die einen solchen hypothetischen Willen des Erblassers stützen. Das OLG Hamm fand diese Hinweise in den weitreichenden Befugnissen, die der Vater seiner Frau ohnehin schon eingeräumt hatte.
Sie durfte zu Lebzeiten den landwirtschaftlichen Hof und das Baugrundstück an eines der Kinder übertragen – ohne Zustimmung des Nacherben. Sie durfte Abfindungen für das jeweils andere Kind festlegen. Ihre Rechte gingen weit über die eines normalen, nicht befreiten Vorerben hinaus. Ihre Position ähnelte schon stark der einer Eigentümerin.
Das Gericht addierte die Puzzleteile: die gescheiterte Ermächtigung zur Nacherben-Auswahl plus die außergewöhnlich starken Verfügungsrechte. Beides zusammen zeichnete ein klares Bild. Der Erblasser vertraute seiner Frau so sehr, dass er ihr faktisch die Stellung einer Vollerbin geben wollte. Die Konstruktion als Vorerbin mit diesen Sonderrechten war nur der unglücklich formulierte Versuch, diesen Willen umzusetzen. Für das Gericht war das ein ausreichender Grund, das Testament so auszulegen, als hätte der Vater seine Frau von Anfang an zur Vollerbin gemacht.
Was bedeutete diese Entscheidung für die Erbfolge und den Sohn?
Die Umdeutung zur Vollerbin pulverisierte die Position des Sohnes als Nacherbe des Vaters. Wenn die Mutter Vollerbin war, gehörte ihr der Nachlass uneingeschränkt. Sie war nicht mehr an die Nacherbenregelung des väterlichen Testaments gebunden.
Als Eigentümerin des Vermögens konnte sie ihr eigenes, völlig neues Testament errichten. Das tat sie auch. Einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes setzte sie per Notar ihre Tochter zur Alleinerbin ein. Mit dem Tod der Mutter trat genau dieses Testament in Kraft. Die Tochter erbte das gesamte Vermögen der Mutter, das auch den ursprünglichen Nachlass des Vaters umfasste.
Der Antrag des Sohnes auf einen Erbschein, der ihn als Erben seines Vaters auswies, war damit hinfällig. Er war kein Erbe geworden. Das Gericht wies seinen Antrag zurück und machte deutlich: Die juristische Umdeutung einer einzigen, fehlerhaften Klausel hatte die gesamte Erbfolge neu geordnet und den Willen der Mutter zur entscheidenden Weiche für das Familienerbe gemacht.
Die Urteilslogik
Juristische Fehler bei der Erbenbestimmung führen nicht automatisch zum gewünschten Ergebnis, sondern aktivieren die richterliche Auslegung, die den hypothetischen Willen des Erblassers über formale Unwirksamkeiten rettet.
- Höchstpersönliche Erbenwahl: Ein Erblasser delegiert die Bestimmung des Nacherben nur wirksam, wenn er die Auswahl durch klare, objektive Kriterien so stark begrenzt, dass dem Bevollmächtigten kein freier Willensspielraum bleibt.
- Umfangreiche Verfügungsrechte als Indiz: Räumt der Erblasser dem Vorerben ungewöhnlich starke Verfügungsrechte über den Nachlass ein, interpretiert das Gericht dies als den tatsächlichen Willen, ihm die Stellung eines Vollerben zuzuweisen.
- Umdeutung rettet den Kernwillen: Scheitert eine Anordnung im Testament wegen mangelnder Bestimmtheit, kann das Gericht diese in eine rechtlich zulässige Gestaltung umdeuten, die dem ursprünglichen Ziel der maximalen Flexibilität am nächsten kommt.
Das Gericht stellt sicher, dass der Wille des Erblassers, auch wenn er fehlerhaft formuliert wurde, durch juristische Werkzeuge wie die Umdeutung bestmöglich erfüllt wird.
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Experten Kommentar
Viele meinen, wenn man einen Fehler ins Testament schreibt, wird der ursprünglich beabsichtigte Plan automatisch aktiviert. Das Oberlandesgericht Hamm zeigt eindrücklich, wie gefährlich dieser Irrtum ist: Weil der Vater der Mutter faktisch grenzenlose Verfügungsgewalt geben wollte, deutete das Gericht die formell unwirksame Nacherbenbestimmung in eine Vollerbschaft um. Die Lektion ist klar: Wer dem überlebenden Ehepartner maximalen Handlungsspielraum über den Nachlass einräumt, signalisiert damit oft, dass er ihm die alleinige Entscheidungsgewalt zutraut, selbst wenn der Erblasser nur eine Vorerbschaft wollte. Im Ergebnis löste diese Umdeutung nicht nur das Nacherbenverhältnis auf, sondern gab der Mutter freie Hand, das gesamte Vermögen ausschließlich der Tochter zu vererben.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Welche objektiven Kriterien sind nötig, um die Nacherben-Auswahl rechtlich zulässig zu delegieren?
Die Auswahl des Nacherben darf nur dann auf einen Dritten (meist den Vorerben) übertragen werden, wenn der Erblasser im Testament klare, objektive und sachliche Kriterien vorgibt. Diese Maßstäbe müssen so präzise sein, dass dem Dritten kein eigener, freier Willensspielraum bleibt. Der Dritte führt damit lediglich eine identifizierende Handlung aus. Fehlen solche Kriterien, verstößt die Klausel gegen die Höchstpersönlichkeit der Erbeinsetzung (§ 2065 BGB) und wird unwirksam.
Das deutsche Erbrecht verlangt, dass Sie als Testamentsverfasser die zentralen Entscheidungen über Ihr Erbe selbst treffen. Juristen nennen dies den Grundsatz der Höchstpersönlichkeit. Sie können die Bestimmung des Erben nicht einfach an die Sympathie, das Gefühl oder das vage Gutdünken eines Dritten delegieren.
Die Regel lautet: Delegation ja, aber nur, wenn die Entscheidung des Dritten zwingend durch Ihre im Testament festgehaltenen Vorgaben gesteuert wird. Die Zielperson muss faktisch schon bestimmt sein, der Dritte muss sie nur noch finden. Eine Formulierung, die dem Überlebenden erlaubt, den Nacherben „nach freiem Ermessen“ zu bestimmen, ist daher absolut nichtig und riskiert die juristische Umdeutung der gesamten Anordnung.
Ein passender Vergleich ist der Unterschied zwischen einem Rezept und einer vagen Anweisung. Wenn Sie in Ihrem Testament lediglich sagen: „Meine Frau soll den Nacherben unter unseren Kindern bestimmen“, ist das eine vage Anweisung – unzulässig, weil willkürlich. Wenn Sie aber schreiben: „Meine Frau soll denjenigen unserer Abkömmlinge als Nacherben bestimmen, der nachweislich die landwirtschaftliche Meisterprüfung erfolgreich abgeschlossen oder das Familienunternehmen in eigener Verantwortung übernommen hat“, dann ist das ein messbares, objektives Kriterium.
Überprüfen Sie sofort alle Klauseln, die Ihrem überlebenden Ehepartner die Auswahl der Schlusserben ermöglichen. Fügen Sie unbedingt einen konkreten Kriterienkatalog hinzu. Dieser Katalog muss einen direkten, messbaren Sachgrund enthalten, der jegliche Willkür ausschließt – zum Beispiel die Fortführung des Familienunternehmens oder die Wohnsitznahme im Stammhaus. Ohne diese objektive Eingrenzung riskieren Sie nicht nur die Nichtigkeit der Klausel, sondern gefährden die gesamte Vorerben-Konstruktion durch eine ungewollte Umdeutung zur Vollerbschaft.
Welche Rechte hat der Nacherbe, um das Erbe vor der Veräußerung durch den Vorerben zu schützen?
Als Nacherbe stehen Ihnen bei einem nicht befreiten Vorerben erhebliche Schutzrechte zu, um die Substanz des Nachlasses zu erhalten. Das zentrale Werkzeug ist das gesetzliche Verfügungsverbot: Verfügungen über Grundstücke und alle unentgeltlichen Zuwendungen (Schenkungen) sind dem Nacherben gegenüber unwirksam und können später zurückgefordert werden (§ 2113 BGB). Dieser Schutz ist entscheidend, wenn der Vorerbe das Vermögen mutwillig gefährdet.
Die Regel lautet: Der Vorerbe ist zwar formell Eigentümer der Erbschaft, jedoch ist sein Eigentum rechtlich beschränkt. Er ist verpflichtet, das geerbte Vermögen für den späteren Nacherben substanziell zu erhalten. Das Gesetz schützt Ihre künftigen Rechte daher gleich mehrfach. Zuerst sichert Ihnen § 2121 BGB ein wichtiges Auskunftsrecht. Sie können jederzeit ein detailliertes Inventar oder ein Nachlassverzeichnis verlangen, um den aktuellen Vermögensbestand genau zu dokumentieren.
Juristen nennen die wichtigste Beschränkung die Verfügungsverbote. Insbesondere der Verkauf von Nachlass-Immobilien oder die Schenkung von Vermögenswerten sind ohne Ihre Zustimmung unwirksam. Bei einer drohenden, massiven Gefährdung des Vermögens – etwa durch riskante, spekulative Geschäfte oder übermäßige Entnahmen – kann der Nacherbe sogar eine Sicherheitsleistung vom Vorerben verlangen, oft in Form einer gerichtlichen Hinterlegung von Geld oder einer Bürgschaft (§ 2128 BGB).
Ein passender Vergleich ist der eines Treuhänders, der zwar die Schlüssel zum Safe hält, aber nur im Interesse des rechtmäßigen Eigentümers handeln darf. Wenn der Vorerbe ein Grundstück verkauft, das zum Nachlass gehört, ohne dass die gesetzlichen Vorgaben oder Ihre Zustimmung beachtet wurden, ist dieser Verkauf mit Eintritt der Nacherbfolge (typischerweise dem Tod des Vorerben) für Sie hinfällig. Sie können das Grundstück dann vom Käufer zurückfordern.
Prüfen Sie dringend die Befreiung des Vorerben. Der gesamte Schutz ist hinfällig, wenn der Erblasser den Vorerben im Testament ausdrücklich „befreit“ hat (§ 2136 BGB). Kontaktieren Sie umgehend das Nachlassgericht, um eine beglaubigte Kopie des Testaments anzufordern und diese Passage zu kontrollieren. Dokumentieren Sie gleichzeitig jede verdächtige Transaktion des Vorerben (z.B. den Immobilienverkauf oder große Schenkungen), da eine schnelle gerichtliche Reaktion notwendig sein kann, um die Sicherheitsleistung zu erwirken.
Wer erbt nach einer Umdeutung zur Vollerbschaft, wenn der Vollerbe kein neues Testament errichtet?
Die Umdeutung eines Testaments zur Vollerbschaft beseitigt die Beschränkungen der ursprünglichen Vorerbschaft vollständig. Hat der überlebende Vollerbe keine eigene letztwillige Verfügung getroffen, tritt nach dessen Tod die gesetzliche Erbfolge des Vollerben in Kraft. Das bedeutet, das gesamte Vermögen – einschließlich des ursprünglichen Nachlasses – fällt an die gesetzlichen Erben des Vollerben, wie dessen Kinder oder ein neuer Ehepartner. Die ursprünglichen Nacherben des Ersterblassers haben kein automatisches Erbrecht mehr am Nachlass.
Juristen nennen diesen Vorgang die Umdeutung gemäß § 140 BGB. Die gerichtliche Feststellung der Vollerbschaft bewirkt einen klaren Schnitt: Die ursprüngliche Anordnung der Vor- und Nacherbschaft verliert ihre Wirksamkeit. Der Vollerbe ist nun uneingeschränkter Eigentümer des gesamten Nachlasses und kann über das Vermögen frei verfügen, als wäre es originär seins gewesen. Damit entfällt jegliche Bindung an die ursprüngliche Absicht des Ersterblassers, wer nach dem Tod des Überlebenden erben soll.
Die entscheidende Konsequenz ist der endgültige Kontrollverlust des ursprünglichen Erblassers über sein Vermögen. Die Regel lautet: Stirbt der Vollerbe ohne neues Testament, bestimmt nicht mehr der Wille des zuerst Verstorbenen die Erbfolge, sondern ausschließlich das Bürgerliche Gesetzbuch bezüglich der Verwandtschaft des Vollerben. Denken Sie an die Situation eines Vollerben, der nach der Umdeutung erneut heiratet: Sein neuer Ehepartner würde neben den gemeinsamen oder Stiefkindern des Vollerben erben, was im ursprünglichen Testament des Ersterblassers möglicherweise explizit verhindert werden sollte.
Falls der Vollerbe verstorben ist und Sie Bedenken bezüglich der Erbfolge haben: Beantragen Sie umgehend beim Nachlassgericht die Feststellung der gesetzlichen Erben des Vollerben. Dafür müssen Sie alle Dokumente vorlegen, die den Familienstand und die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse des Vollerben zum Todeszeitpunkt belegen. Nur so stellen Sie sicher, dass die tatsächlichen Erben identifiziert werden und das Risiko eines falschen Erbscheins minimiert wird.
Welche Fristen gelten für mich, wenn ich die Unwirksamkeit einer Testamentsklausel geltend machen möchte?
Die Nichtigkeit einer Testamentsklausel, die gegen das Höchstpersönlichkeitsprinzip (§ 2065 BGB) verstößt, ist grundsätzlich zeitlich unbegrenzt geltend machbar, da sie von Anfang an absolut nichtig ist. Eine starre Anfechtungsfrist existiert hier nicht. Trotzdem müssen Sie sofort handeln: Der entscheidende Zeitdruck entsteht durch die drohende juristische Umdeutung (§ 140 BGB), die Ihre Rechte unwiederbringlich entziehen kann.
Die Erklärung
Juristen unterscheiden strikt zwischen der Anfechtung eines Testaments, die wegen Irrtums oder Zwang innerhalb eines Jahres erfolgen muss (§ 2082 BGB), und der absoluten Nichtigkeit. Wurde gegen das zentrale Gebot verstoßen, dass der Erblasser seine Erben höchstpersönlich bestimmen muss – etwa durch eine zu vage Delegation an Dritte – ist die Klausel schlicht unwirksam. Diese Nichtigkeit verjährt nicht.
Allerdings entsteht ein massiver praktischer Zeitdruck, sobald das Nachlassgericht aktiv wird. Die Unwirksamkeit muss spätestens dann gerichtlich festgestellt werden, wenn ein Erbschein beantragt wird, der die fehlerhafte Erbfolge ausweisen würde. Entscheidend ist die Gefahr der Umdeutung: Hat der Erblasser in seinem fehlerhaften Versuch, die Erbfolge zu regeln, seinen hypothetischen Willen zur Vollerbschaft des Partners gezeigt, kann das Gericht diesen Willen nachträglich heilen.
Der Aha-Effekt
Denken Sie an die Situation eines Wettlaufs: Sie starten nicht aus einer starren Position, sondern aus einem beweglichen Feld. Solange die Klausel noch nicht gerichtlich interpretiert oder umgedeutet wurde, ist die Tür offen. Sobald jedoch die Umdeutung zur Vollerbschaft (§ 140 BGB) gerichtlich festgestellt ist, verliert der ursprüngliche Nacherbe seine Rechte unwiederbringlich. Die juristische Realität hat Fakten geschaffen, die selbst die absolute Nichtigkeit der ursprünglichen Klausel nicht mehr rückgängig machen kann.
Der Praxis-Tipp
Warten Sie keinesfalls ab und verlassen Sie sich nicht darauf, dass die Nichtigkeit von selbst eintritt. Sie müssen die Umdeutung proaktiv verhindern. Dokumentieren Sie umgehend alle Fakten, die beweisen, dass die delegierende Klausel gegen § 2065 BGB verstößt. Legen Sie dem Nachlassgericht unverzüglich schriftlich dar, dass die Klausel nichtig ist, und beantragen Sie die Ausstellung eines Erbscheins, der die Erbfolge ohne Berücksichtigung dieser unwirksamen Bestimmung feststellt.
Welche rechtssichere Testamentsform garantiert dem überlebenden Ehegatten die größtmögliche Flexibilität?
Die höchste Sicherheit und die größtmögliche Flexibilität für den überlebenden Ehegatten bietet die Vollerbschaft, typischerweise umgesetzt im Rahmen eines Berliner Testaments. Dabei setzen sich die Ehepartner gegenseitig zu Alleinerben ein, wodurch der Überlebende zum uneingeschränkten Eigentümer des gesamten Vermögens wird. Diese Regelung vermeidet die juristischen Fallstricke der Nacherbschaft und garantiert dem Partner die freie Verfügungsgewalt über den Nachlass.
Wählen Sie diese Form, entfällt die strenge Bindung an die Nacherbschaft, die andernfalls Ihre Handlungsfähigkeit massiv einschränken würde. Die Regel lautet: Ein Vollerbe kann nach seinem Gutdünken über das gesamte Vermögen entscheiden. Er kann Immobilien verkaufen, Schenkungen vornehmen oder das Vermögen in die eigene Altersvorsorge investieren – ohne die Zustimmung Dritter zu benötigen. Im Gegensatz dazu wird ein Vorerbe durch Verfügungsbeschränkungen geschützt, die einzig dem Erhalt des Vermögens für die Nacherben dienen (§ 2113 BGB).
Da Sie Ihrem Partner maximale Kontrolle ermöglichen wollen, ist es entscheidend, die Nacherben-Konstruktion vollständig zu meiden. Die Vollerbschaft stellt sicher, dass der überlebende Ehegatte die Erbfolge, je nach zukünftiger Lebenssituation, jederzeit neu festlegen kann. Dies ist der rechtlich saubere Weg, um die Gefahr einer juristischen Umdeutung oder der Ungültigkeit von Delegationsklauseln zu verhindern.
Stellen Sie sich den Unterschied wie folgt vor: Die Vorerbschaft schränkt den Überlebenden ein, weil er das Vermögen für die Erben konservieren muss. Die Vollerbschaft hingegen macht Ihren Partner zum Kurator und zum alleinigen Eigentümer des gesamten Vermögens.
Verzichten Sie nicht auf notwendige flankierende Maßnahmen. Um die Vollerbschaft rechtssicher gegen Pflichtteilsansprüche der Kinder abzusichern, muss das Berliner Testament zwingend eine präzise formulierte Pflichtteilsstrafklausel enthalten. Konsultieren Sie einen Notar oder Fachanwalt für Erbrecht. Diese Fachperson stellt sicher, dass Sie nicht nur die Vollerbschaft anordnen, sondern auch Klauseln gegen Wiederheirat oder die Inanspruchnahme des Pflichtteils sauber verankern.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.

Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Höchstpersönlichkeit der Erbeinsetzung
Das Prinzip der Höchstpersönlichkeit der Erbeinsetzung verlangt nach § 2065 BGB, dass der Erblasser die zentrale Entscheidung, wer nach seinem Tod erbt, zwingend selbst und höchstpersönlich treffen muss. Juristen nennen dies den Grundsatz, der verhindern soll, dass der zentrale Akt der Testamentserrichtung einfach an Dritte delegiert wird. Das Gesetz garantiert damit die Authentizität des letzten Willens.
Beispiel: Im vorliegenden Fall verstieß der Vater gegen die Höchstpersönlichkeit der Erbeinsetzung, indem er seiner Ehefrau die willkürliche Entscheidung übertrug, den Nacherben „anderweitig zu bestimmen“.
Nacherbschaft
Eine Nacherbschaft ist eine spezielle testamentarische Konstruktion, bei der nacheinander zwei Personen denselben Nachlass erben: Zuerst erbt der Vorerbe und später, nach Eintritt eines bestimmten Ereignisses (meist dessen Tod), der Nacherbe. Diese Konstruktion erlaubt es dem Erblasser, sein Vermögen über zwei Generationen hinweg zu steuern und dessen Verbleib im Voraus festzulegen. Der Vorerbe erhält das Vermögen nur zeitlich beschränkt.
Beispiel: Der Sohn war im ursprünglichen Testament des Vaters als Nacherbe vorgesehen, sollte also das Vermögen erst nach dem Ableben seiner Mutter, der Vorerbin, erhalten.
Umdeutung (§ 140 BGB)
Die Umdeutung ist ein juristisches Werkzeug nach § 140 BGB, das Gerichten erlaubt, eine unwirksame testamentarische Anordnung in eine andere, rechtlich zulässige Form zu retten, die dem hypothetischen Willen des Erblassers am nächsten kommt. Der Gesetzgeber ermöglicht mit der Umdeutung die Wahrung des Erblasserwillens, selbst wenn dieser sich fehlerhaft oder unwirksam ausgedrückt hat, und vermeidet dadurch oft die gänzliche Nichtigkeit des Testaments.
Beispiel: Obwohl die Klausel zur Nacherben-Auswahl unwirksam war, wählte das Oberlandesgericht Hamm die juristische Umdeutung, um den offensichtlichen Wunsch des Vaters nach maximaler Flexibilität für seine Frau zu erfüllen.
Verfügungsverbote
Verfügungsverbote schützen den Nacherben, indem sie dem nicht befreiten Vorerben gesetzlich untersagen, ohne Zustimmung Grundstücke zu veräußern oder das Nachlassvermögen unentgeltlich (etwa durch Schenkung) zu übertragen (§ 2113 BGB). Diese Schutzrechte stellen sicher, dass die Substanz des Erbes für den Zeitpunkt der Nacherbfolge erhalten bleibt und der Vorerbe das Vermögen nicht mutwillig gefährden kann.
Beispiel: Wären der Vorerbe nicht ausdrücklich befreit worden, hätten die Verfügungsverbote gegriffen und der Vorerbe hätte die landwirtschaftlichen Grundstücke nicht ohne Zustimmung des Nacherben übertragen dürfen.
Vollerbschaft
Die Vollerbschaft beschreibt die Stellung eines Erben, der den Nachlass uneingeschränkt und ohne rechtliche Bindung an spätere Nacherben erhält. Als Vollerbe erlangt man die volle Verfügungsgewalt über das Vermögen und kann jederzeit ein eigenes Testament errichten, da keine Beschränkungen aus einem früheren Testament mehr bestehen.
Beispiel: Die Umdeutung des fehlerhaften Testaments führte dazu, dass die Ehefrau zur Vollerbin wurde und somit nicht mehr an die ursprüngliche Erbfolge gebunden war.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Hamm – Az.: 10 W 23/24 – Beschluss vom 09.01.2025
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Dr. jur. Christian Gerd Kotz ist Notar in Kreuztal und seit 2003 Rechtsanwalt. Als versierter Erbrechtsexperte gestaltet er Testamente, Erbverträge und begleitet Erbstreitigkeiten. Zwei Fachanwaltschaften in Verkehrs‑ und Versicherungsrecht runden sein Profil ab – praxisnah, durchsetzungsstark und bundesweit für Mandanten im Einsatz.
