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Wirksamkeit Pflichtteilsentziehung

LG Frankenthal – Az.: 8 O 308/20 – Urteil vom 11.03.2021

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 26.754,68 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 20.01.2021 zu zahlen.

2. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

4. Der Streitwert wird auf 26.754,68 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Pflichtteilsentziehung.

Der Kläger ist der einzige Abkömmling der zwischen dem 10.01.2020 und dem 12.01.2020 verwitwet verstorbenen … (nachfolgend: Erblasserin). Diese hatte durch notarielles Testament vom 11.10.2019 den beklagten Verein zu ihrem Alleinerben eingesetzt. Der für die Pflichtteilsberechnung relevante Reinwert ihres Nachlasses beträgt 53.509,37 €.

Der für die streitgegenständliche Pflichtteilsentziehung relevante Vorfall ereignete sich am 06.12.1996, als es zwischen der Erblasserin und dem Kläger zu einer tätlichen Auseinandersetzung im Anwesen … in … kam, deren Hergang streitig ist.

Nach dieser tätlichen Auseinandersetzung erstatteten die Erblasserin und der Kläger gegenseitig Strafanzeigen; die sich hieraus ergebenden Ermittlungs- oder Strafverfahren wurden in der Folgezeit ohne nähere Aufklärung des Sachverhalts eingestellt. Auch begaben sich die Erblasserin und der Kläger nach dieser Auseinandersetzung in die Notaufnahme des Städtischen Krankenhauses …, um sich die jeweiligen Folgen dieser Auseinandersetzung behandeln bzw. attestieren zu lassen.

Am 08.04.1997 errichteten die Erblasserin und ihr Ehemann …, der Vater des Klägers, vor dem (damaligen) Notar … mit Amtssitz in … einen notariellen Erbvertrag (UR.Nr. …), in welchem sie sich gegenseitig zu ihren Alleinerben einsetzten und ihre Enkelin …, die Tochter des Klägers, zu ihrer Schlusserbin, wobei dem Überlebenden ausdrücklich vorbehalten war, diese Schlusserbeneinsetzung – wie durch das notarielle Testament vom 11.10.2019 geschehen – zu widerrufen.

Im Eingangsteil dieser Urkunde ist vermerkt, dass beide Eheleute das Anwesen … in … mit notarieller Urkunde vom 08.06.1990 schenkweise an den Kläger übertragen hätten und sich derzeit aufgrund groben Undanks des Erwerbers um die Rückübertragung dieses Grundbesitzes bemühten.

In Ziff. IV der Urkunde ist unter „Pflichtteilsanzug“ folgendes angeordnet:

„Jeder von uns entzieht hiermit unserem gemeinschaftlichen Sohn …, geboren am 07.07.1959, den Pflichtteil sowohl für den Fall des Erstversterbens als auch den des Letztversterbenden.

Am 06.12.1996 gegen 19:00 Uhr schlug unser Sohn … seine Mutter … mehrfach mit der flachen Hand ins Gesicht.

Der Vorfall ereignete sich im Anwesen … in ….

Infolge der Schläge traten bei Frau … Übelkeit und eine kurze Bewusstlosigkeit ein. Der behandelnde Arzt stellte später eine Schädelprellung fest.

Zum Nachweis des vorbezeichneten Geschehens ist dieser Urkunde die polizeiliche Bestätigung über die Erstattung einer Strafanzeige vom 08.12.1996 sowie das Attest des behandelnden Arztes vom 06.12.1996 als Anlage beigefügt.

Aufgrund des vorbezeichnetes Vorfalles entzieht die Ehefrau ihrem Sohn den Pflichtteil gemäß § 2333 Nr. 2 erste Alternative BGB, der Ehemann seinem Sohn gemäß § 2333 Nr. 2 zweite Alternative BGB.“

Nach dem Ableben des … kam es zu einem Pflichtteilsprozess zwischen dem Kläger und dessen Alleinerbin, der jetzigen Erblasserin (Az.: …), der mit einem Vergleich endete. Die diesbezügliche Akte wurde ausgesondert.

Nach dem Ableben der Erblasserin nimmt der Kläger mit vorliegender Klage nunmehr den Beklagten als deren Allereinerben auf Pflichtteilserfüllung in Anspruch.

Hierzu trägt er vor:

Der im notariellen Erbvertrag seiner Eltern vom 08.04.1997 angeordneter Pflichtteilsanzug sei mangels eines die Pflichtteilsentziehung rechtfertigenden Grundes unwirksam. Im Erbvertrag sei der Vorfall vom 06.12.1996 falsch dargestellt. Er habe seine Mutter, die jetzige Erblasserin, niemals mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Vielmehr habe es sich bei dem damaligen Vorfall um eine Auseinandersetzung gehandelt, die von der Erblasserin ausgegangen sei. So sei auch in dem gegen die Erblasserin geführten Pflichtteilsverfahren bereits festgestellt worden, dass kein Grund für eine schwere Pietätsverletzung im Sinne der Rechtsprechung vorliege und der Pflichtteilsentzug somit nicht wirksam sei.

Der Kläger beantragt, zu entscheiden wie aus der Urteilsformel ersichtlich.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Beklagte trägt vor: Der Pflichtteilsentzug zulasten des Klägers sei wirksam.

Hintergrund der damaligen Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und seinen Eltern sei gewesen, dass diese einen hohen Kredit bei der Sparkasse … aufgenommen hätten, um dem Kläger ein Studium der Architektur bei der … zu ermöglichen. Der Kläger habe sich jedoch als völlig missratener Sohn erwiesen, sein Studium heimlich abgebrochen und die ihm von den Eltern gewährten Gelder „verprasst“. Diese habe er auch nicht zurückgezahlt oder zurückzahlen können. Der von den Eltern aufgenommenen Kredit sei deshalb notleidend und von der Sparkasse fristlos gekündigt geworden, die daraufhin die Zwangsversteigerung in das Anwesen betrieben und dieses für rund 200.000 DM selbst ersteigert habe, um es anschließend für 400.000 DM wieder zu veräußern.

Dies habe zu einem völligen Zerwürfnis zwischen dem Kläger und seinen Eltern geführt. Dieses Zerwürfnis habe in dem im notariellen Erbvertrag dargestellten Ereignis gegipfelt. Zum Beweis dafür, dass sich der Vorfall so zugetragen habe wie im notariellen Erbvertrag dargestellt, werde die Vernehmung des damals protokollierenden Notars … beantragt. Zum Beweis für die damals von der Erblasserin erlittenen Verletzungen werde die Beiziehung der Nachlassakte beantragt, in der sich das im notariellen Erbvertrag angesprochene Attest befinde. Die Vernehmung des dort bezeichneten, die Erblasserin damals behandelnden Arztes werde beantragt.

Das Gericht hat auf Antrag des Beklagten in der mündlichen Verhandlung den Kläger zu dem Vorfall vom 06.12.1996 als Partei vernommen. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 18.02.2021 Bezug genommen.

Im Übrigen wird zur ergänzenden Darstellung des Sach- und Streitstandes auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

I. Vom Grundsatz her steht zwischen den Parteien außer Streit, dass dem Kläger gegen den beklagten Verein als Alleinerben der Mutter des Klägers ein Pflichtteilsanspruch zusteht, der der Höhe nach den geltend gemachten Betrag von 26.754,68 € beträgt, §§ 2303 Abs. 1 S. 1, 2, 2311 Abs. 1 S. 1 BGB. Da die Wirksamkeit des streitgegenständlichen Pflichtteilsentzuges jedenfalls nicht festgestellt werden kann, ist der beklagte Verein auch verpflicht, diesen Anspruch des Klägers zu erfüllen, § 1967 Abs. 2 BGB.

1. a) Das Pflichtteilsrecht gewährleistet die verfassungsrechtlich geschützte grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass. Diese ist als tradiertes Kernelement des deutschen Erbrechts Bestandteil des institutionell verbürgten Gehalts der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Zudem sind die strukturprägenden Merkmale der Nachlassteilhabe von Kindern Ausdruck einer Familiensolidarität, die in grundsätzlich unauflösbarer Weise zwischen dem Erblasser und seinen Kindern besteht und die ihrerseits von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt wird. Das Pflichtteilsrecht knüpft an die familienrechtlichen Beziehungen zwischen dem Erblasser und seinen Kindern an und überträgt diese Solidarität zwischen den Generationen in den Bereich des Erbrechts. Diese Verpflichtung zur gegenseitigen umfassenden Sorge rechtfertigt es, dem Kind mit dem Pflichtteilsrecht auch über den Tod des Erblassers hinaus eine ökonomische Basis aus dem Vermögen des verstorbenen Elternteils zu sichern (vgl. etwa BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. November 2018 – 1 BvR 1511/14 -, Rn. 13 mwN, juris).

Allerdings entsprechen auch die hier zu prüfenden Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB grundsätzlich den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Sie setzen Fehlverhaltensweisen des Pflichtteilsberechtigten voraus, die schwerwiegend genug sind, um von einer Unzumutbarkeit für den Erblasser ausgehen zu können, eine seinem Willen widersprechende Nachlassteilhabe des Kindes hinzunehmen. Diese gesetzlichen Regelungen umschreiben auch im Interesse der Normenklarheit und der Justiziabilität das Fehlverhalten des Kindes gegenüber dem Erblasser in hinreichend klarer Weise (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. April 2005 – 1 BvR 1644/00 -, BVerfGE 112, 332-363, Rn. 82).

b) Für die hier in Rede stehenden Pflichtteilenziehung gilt Folgendes:

Nach § 2333 Nr. 2 BGB in der für Erbfälle seit dem 01.01.2020 gültigen – und somit hier maßgeblichen – Fassung kann der Erblasser einem Abkömmling den Pflichtteil entziehen, wenn der Abkömmling sich eines Verbrechens oder eines schweren vorsätzlichen Vergehens gegen eine der in Nummer 1 bezeichneten Personen, also gegenüber dem Erblasser, dem Ehegatten des Erblassers, einem anderen Abkömmling oder einer dem Erblasser ähnlich nahe stehenden Person, schuldig macht. Die Neufassung tritt an die Stelle des zuvor maßgeblichen Entziehungsgrundes der körperlichen Misshandlung, ohne dass der Gesetzgeber damit eine inhaltliche Änderung der Entziehungsgründe beabsichtigt hat. Da der Begriff der körperlichen Misshandlung ebenso zu verstehen war wie in § 223 StGB, ist der Fall als schweres vorsätzliches Vergehen nunmehr von Abs 1 Nr 2 2. Alt umfasst. Damit ist die Tat als eine üble, unangemessene, sozialwidrige Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird, zu verstehen. Schmerzempfindung wird nicht gefordert (vgl. Staudinger/Olshausen (2015) BGB § 2333, Rn. 9 mwN).

Es muss demnach keine grobe oder schwere vorsätzliche körperliche Misshandlung stattgefunden haben; es genügt auch eine leichte vorsätzliche körperliche Misshandlung, sofern das Verhalten des Abkömmlings zusätzlich eine schwere Pietätsverletzung, eine „schwere Verletzung der dem Erblasser geschuldeten familiären Achtung“, zum Ausdruck bringt. Letzteres hat das OLG Saarbrücken bejaht in einem Fall, in dem die pflichtteilsberechtigte Tochter dem Erblasser mehrfach mit der Hand ins Gesicht geschlagen, ihm den gestreckten Mittelfinger gezeigt, ihn mit üblen Schimpfwörtern bedacht und ihm gewünscht hat, er möge „verrecken“. Ebenfalls ein schweres vorsätzliches Vergehen und eine schwere Verletzung der der Erblasserin geschuldeten familiären Achtung hat das LG Saarbrücken bejaht bei einem Sohn der Erblasserin, der seinem Stiefvater mit einer Sportluftpistole ins Gesicht geschossen hatte, nachdem er gewaltsam in das Haus der Mutter eingedrungen war. Eine schwere Pietätsverletzung soll nach Auffassung des OLG Köln hingegen nicht anzunehmen sein, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass es zur körperlichen Misshandlung des Erblassers im Affekt und aus Enttäuschung wegen erheblicher finanzieller und persönlicher Benachteiligungen des Pflichtteilsberechtigten durch den Erblasser gekommen ist (vgl. Birkenheier in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 2333 BGB (Stand: 25.11.2020), Rn. 28-29 mwN).

c) Es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung schließlich geklärt, dass die Wirksamkeit einer Pflichtteilsentziehung neben der Entziehungserklärung (§ 2336 Abs. 1 BGB) jedenfalls im Rahmen des § 2333 Nr. 1 bis 4 BGB gemäß § 2336 Abs. 2 BGB auch die Angabe eines zutreffenden Kernsachverhalts in dem Testament voraussetzt. Dabei geht es nicht darum, dass der Erblasser zum Ausdruck bringt, unter welchen der im Gesetz angeführten Entziehungstatbestände er seinen Entziehungsgrund einordnet, sondern es kommt auf eine gewisse Konkretisierung der Gründe an, auf die er die Entziehung stützen will. Eine derartige konkrete Begründung in dem Testament, die nicht in die Einzelheiten zu gehen braucht, ist schon deshalb unverzichtbar, weil die Entziehung andernfalls im Einzelfall am Ende auf solche Vorwürfe gestützt werden könnte, die für den Erblasser nicht bestimmend waren, sondern erst nachträglich vom Erben erhoben und vom Richter für begründet erklärt werden. Der hiernach notwendig anzugebende Kern des konkreten Sachverhalts, der den Grund der Pflichtteilsentziehung bildet, gehört gemäß § 2336 Abs. 2 BGB in die letztwillige Verfügung. Dieser Formvorschrift wird nicht schon dadurch Genüge getan, dass der Erblasser wegen des Entziehungsgrundes lediglich auf andere, der Testamentsform nicht entsprechende Erklärungen verweist (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 04. Dezember 1998 – 7 U 144/97 -, Rn. 10-11 mwN, juris).

2. Nach diesen Grundsätzen kann nach Auffassung des erkennenden Gerichts schon nicht von der Darstellung eines wirksamen Entziehungsgrundes im notariellen Erbvertrag der Eltern des Klägers vom 08.04.1997 ausgegangen werden.

a) Der Hintergrund der dem Kläger dort zur Last gelegten körperlichen Misshandlung der Erblasserin wird nicht genannt, auch nicht deren Folgen für die Erblasserin in den ca. 4 Monaten bis zur Testamentserrichtung. Wenn sich die dem Kläger zur Last gelegte körperliche Misshandlung in einem Streit zugetragen haben oder als Affekthandlung zu bewerten sein sollte, dann würde dies aus Sicht des Gerichts weniger schwer wiegen als etwa in dem oben dargestellten Fall des gewaltsamen Eindringens in das Haus der Mutter. Aus Sicht des Gerichts ist es kaum nachvollziehbar, dass der dem Kläger zur Last gelegte Vorfall allein, also für sich genommen, für die Eltern des Klägers so schwerwiegend war, dass es für sie unzumutbar war, über die Enterbung hinaus eine Mindesteilhabe des Klägers an ihrem Nachlass hinzunehmen.

Dies gilt umso mehr, als auch der Vater des Klägers diesen Vorfall zum Anlass genommen hat oder genommen haben will, um dem Kläger den Pflichtteil zu entziehen. Der insoweit erhobene Einwand des beklagten Vereins bzw. seines Prozessbevollmächtigten, bei der Erblasserin würden als unmittelbar Betroffener andere Maßstäbe für die Pflichtteilsentziehung gelten als bei ihrem Ehemann, verkennt, dass § 2333 Nr. 2 BGB nicht danach unterscheidet, ob die zur Pflichtteilsentziehung veranlassende Tat gegenüber dem Testator oder seinen nahen Angehörigen begangen wurde.

b) Letztendlich geht wohl auch der Beklagte davon aus, dass der im notariellen Erbvertrag mitgeteilte Grund als singuläres Ereignis eine Pflichtteilsentziehung nicht rechtfertigen würde und stellt dieses Ereignis deshalb als Endpunkt einer Eskalation dar, die ihre Ursache in der Enttäuschung der Eltern des Klägers über dessen Studienabbruch und den sich daraus ergebenden finanziellen Problemen für die Eltern selbst (Verlust ihres Hauses) hatte. Indes gilt, dass dieser Sachverhalt im notariellen Erbvertrag schon nicht als Entziehungsgrund mitgeteilt wird. Abgesehen hiervon würde dieser Sachverhalt eine Pflichtteilsentziehung nicht rechtfertigen, sondern einen nachvollziehbaren Anlass für die Enterbung des Klägers geben, über deren Wirksamkeit indes kein Streit herrscht.

Es spricht demnach alles dafür, dass die Eltern des Klägers den im notariellen Erbvertrag mitgeteilten Vorfall als Vorwand dafür genutzt haben, um dem Kläger aus einem anderen, für sie zwar wichtigen, von Gesetzes wegen aber nicht relevanten Grund den Pflichtteil zu entziehen. Wegen dieses anderen Grundes haben die Eltern des Klägers zur damaligen Zeit offenbar auch versucht, die Schenkung der Immobilie … an den Kläger wegen groben Undanks rückgängig zu machen. Es mag zwar nachvollziehbar sein, dass sie wegen dieses anderen, im notariellen Erbvertrag allerdings nicht mitgeteilten und deshalb auch nicht relevanten, Grundes dem Kläger (auch) seien Pflichtteil entziehen wollten, entspricht aber nicht den gesetzlichen Voraussetzungen für eine Pflichtteilsentziehung.

c) Auch ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass zum Zeitpunkt der Errichtung des notariellen Erbvertrages nach den dort mitgeteilten Geburtsdaten die Erblasserin 62 Jahre alt und ihr Ehemann 66 Jahre alt waren, sodass beide nicht ihren nahen Tod vor Augen hatten. Auch dies lässt es zweifelhaft erscheinen, dass der im notariellen Erbvertrag geschilderte Vorfall für sich genommen für die Eltern so gravierend war, dass sie sich bereits jetzt sicher waren, dass es für sie bei ihrem Tod nicht hinnehmbar sein würde, eine Mindestteilhabe des Klägers, ihres einzigen Kindes, an ihrem dereinstigen Nachlass zu akzeptieren.

d) Abschließend ist in diesem Zusammenhang noch darauf hinzuweisen, dass der vom Beklagten vorgetragene „Hintergrund“ für das Zerwürfnis zwischen dem Kläger und seinen Eltern vom Kläger in der mündlichen Verhandlung – insoweit nicht protokolliert – auch bestritten wurde und es insoweit an einem Beweisantritt fehlt.

3. Aber auch wenn man den im notariellen Erbvertrag mitgeteilten Entziehungsgrund als ausreichend ansehen wollte, würde dies dem Klageabweisungsantrag des Beklagten nicht zum Erfolg verhelfen, da die dem Kläger zur Last gelegten körperlichen Übergriffe gegenüber der Erblasserin, seiner Mutter, nicht festgestellt werden können.

a) Gemäß § 2336 Abs. 3 BGB obliegt der Beweis des Grundes der Entziehung demjenigen, welcher die Entziehung geltend macht, hier also dem Beklagten als dem Alleinerben der Erblasserin, der den Pflichtteilsanspruch des Klägers nicht erfüllen und hierdurch den im notariellen Erbvertrag vom 08.04.1997 geäußerten letzten Willen der Erblasserin Geltung verschaffen will. Dies mag der beklagte Verein zwar als richtig und geboten ansehen, ändert aber nichts daran, dass der Erfolg dieses Vorhabens nach § 2336 Abs. 3 BGB den Nachweis des Entziehungsgrundes voraussetzt, sodass der beklagte Verein – bildlich gesprochen – nicht nur das Vermögen der Erblasserin, sondern auch deren Beweisschwierigkeiten für das Vorliegen eines Entziehungsgrundes geerbt hat.

b) Diese Schwierigkeiten vermag der beklagte Verein indes nicht zu überwinden, da sich der im notariellen Erbvertrag mitgeteilte Entziehungsgrund in tatsächlicher Hinsicht nicht nachweisen lässt.

aa) Dem diesbezüglichen Antrag in der Klageerwiderung auf Vernehmung des beurkundenden Notars … war nicht nachzugehen, da dieses Beweismittel den dem Beklagten obliegenden Nachweis nicht erbringen kann. Der beurkundende Notar kann als Zeuge nur bestätigen, dass die Eltern des Klägers dem Notar gegenüber den im notariellen Erbvertrag mitgeteilten Sachverhalt so zu Protokoll gegeben haben. Dies ist indes unstreitig und durch die notarielle Erbvertragsurkunde im Sinne des Vollbeweises auch nachgewiesen (§ 415 Abs. 1 ZPO) und bedarf somit keiner Aufklärung durch das Gericht.

Indes beweist die Tatsache, dass die Eltern des Klägers eine entsprechende Tatsachenschilderung beurkunden ließen, nicht, dass sich diese in tatsächlicher Hinsicht auch so zugetragen hat. Selbst wenn der beurkundende Notar diese Tatsachenschilderung den Eltern des Klägers geglaubt haben sollte, wäre dieser Beweis durch die Vernehmung des Notars nicht zu führen. Aufgabe des Notars war es, die Erklärungen der Eltern des Klägers ordnungsgemäß zu beurkunden und nicht, diese als Zeugen zu vernehmen. „Falschaussagen“ vor dem beurkundenden Notar wären für die Eltern des Klägers schließlich in strafrechtlicher Hinsicht folgenlos geblieben.

Damit gilt, dass allein die Tatsache, dass Testierende in ihrer letztwilligen Verfügung einen Sachverhalt beschreiben bzw. dem beurkundenden Notar mitteilen, nicht beweist, dass sich dieser in tatsächlicher Hinsicht auch so zugetragen hat. Wollte man dies anders sehen, so würde dies die sich aus § 2336 Abs. 3 BGB ergebende – und die oben erörterten verfassungsrechtlichen Rechte des Pflichtteilsberechtigten letztendlich schützende – Beweislastverteilung ad absurdum führen. Es genügt für eine wirksame Pflichtteilsentziehung eben nicht, dass eine Testierender in seiner letztwilligen Verfügung einen Entziehungsgrund mitteilt. Dies ist lediglich in formeller Hinsicht Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Pflichtteilsentziehung (§ 2336 Abs. 2 S. 1 BGB), was aber nach der genannten Vorschrift („und“) nichts daran ändert, dass dieser Grund in tatsächlicher Hinsicht auch bestehen und nachgewiesen werden muss.

Letztendlich könnte die Tatsache, dass die Eltern des Klägers dem Notar den von diesem beurkundeten Vorfall so geschildert haben und dieser ihnen diese Schilderung auch geglaubt hat, allenfalls ein Indiz für die tatsächliche Richtigkeit dieser Schilderung sein, das jedoch nicht geeignet ist, den dem Beklagten in dieser Hinsicht obliegenden Vollbeweis zu erbringen.

bb) Gleiches gilt für die Tatsache, dass die Erblasserin gegen dem Kläger Strafanzeige erstattet hat, zumal dies unstreitig in umgekehrter Richtung ebenfalls der Fall war.

cc) Schließlich vermag auch die Tatsache, dass die Erblasserin nach dem fraglichen Vorfall die Notfallambulanz des Städtischen Krankenhauses … aufgesucht hat und dort Feststellungen zu Verletzungen getroffen wurden, nicht den dem Beklagten obliegenden Beweis zu erbringen oder in maßgeblicher Hinsicht zu bestärken Deshalb war es seitens des Gerichts auch nicht veranlasst, die Nachlassakte, wie vom Beklagten beantragt, beizuziehen, um auf diese Weise in den Besitz des im notariellen Erbvertrag angesprochenen Attestes des behandelnden Arztes vom 06.12.1996 zu gelangen, um hierdurch wiederum den Namen dieses Arztes in Erfahrung zu bringen, um diesen dann als Zeugen zu vernehmen.

Nach dem notariellen Erbvertrag soll der behandelnde Arzt bei der Erblasserin später eine Schädelprellung festgestellt haben. Auch dies kann als wahr unterstellt werden, ohne dass es die dem Beklagten obliegende Beweisführung maßgeblich weiterbringen würde.

Nach der noch zu erörternden Aussage des Klägers anlässlich seiner Parteivernehmung hat dieser, allerdings in einer Art Notwehrsituation, die Erblasserin von sich weggestoßen, sodass diese sich auch hierdurch eine Schädelprellung zugezogen haben kann, die dann später vom sie untersuchenden Arzt attestiert wurde.

dd) Insgesamt sind somit die dem beklagten Verein zum Nachweis der tatsächlichen Voraussetzungen einer Pflichtteilsentziehung zur Verfügung stehenden bzw. die ihm von der Erblasserin „hinterlassenen“ Beweismittel bei weitem nicht ausreichend, um den ihm nach § 2336 Abs. 3 BGB obliegenden, sog. Vollbeweis zu führen.

c) Dieser Beweis konnte schließlich auch nicht durch die deshalb auf Antrag des Beklagtenvertreters im Termin vom 18.02.2021 durchgeführte Vernehmung des Klägers als Partei (§ 445 Abs. 1 ZPO) geführt werden.

Nach der Aussage des Klägers war es nämlich so, dass die Erblasserin ihn bei der Rückkehr in seine Wohnung tätlich angegriffen und auch verletzt hat und er selbst nichts weiter gemacht hat, als die Mutter zur Unterbindung weiterer Tätlichkeiten von sich wegzustoßen.

Es bedarf keiner näheren Begründung, dass auch durch dieses Beweismittel die tatsächlichen Voraussetzungen für die im notariellen Erbvertrag angeordnete Pflichtteilsentziehung nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden konnten, zumal der vom Kläger vorgelegte Arztbericht des Städtischen Krankenhauses … vom 06.12.1996 dessen Sachverhaltsschilderung in gewisser Hinsicht bekräftigt.

d) Dessen ungeachtet bleibt es aber dabei, dass jedenfalls nach Beweislastgrundsätzen nicht von der Wirksamkeit der im notariellen Erbvertrag vom 08.04.1997 angeordneten Entziehung des Pflichtteils ausgegangen werden kann, womit zulasten des beklagten Erben davon auszugehen ist, dass dieser weiterhin zur Erfüllung des Pflichtteilsanspruchs des Klägers verpflichtet ist, auch wenn dies die Erblasserin anders gewollt und angeordnet haben mag.

e) Darauf hinzuweisen ist schließlich noch, dass die Eltern des Klägers durchaus die Möglichkeit gehabt hätten, insoweit zeitnah und rechtssicher klare Verhältnisse zu schaffen. Auch wenn die Erblasserin, was eher nicht überrascht, mit ihrer Strafanzeige nicht „weitergekommen“ sein mag, hätte für sie und ihren Ehemann die Möglichkeit bestanden, die Berechtigung zur Entziehung des Pflichtteils im Wege einer Klage „festzuzurren“. Anerkanntermaßen kann in Fällen der vorliegenden Art nämlich eine Feststellungsklage (§ 256 ZPO) erhoben werden, denn für die Klage eines Testators gegen einen Pflichtteilsberechtigten auf Feststellung eines Rechts zur Entziehung des Pflichtteils besteht das erforderliche Feststellungsinteresse, weil die Klärung der Grenzen der Testierfreiheit im Allgemeinen – wie der vorliegende Fall zeigt – keinen größeren Aufschub verträgt (vgl. Birkenheier in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 2333 BGB (Stand: 25.11.2020), Rn. 91 mwN). Zur Vermeidung späterer Beweisnot auch des Erben, der sich auf die Pflichtteilsentziehung stützen will und deren Voraussetzungen im Streitfall beweisen muss, kann es sich je nach Sachlage auch empfehlen, dass der Erblasser ein selbständiges Beweisverfahren (§ 485 Abs. 1 ZPO) beantragt, in dem z.B. hochbetagte Zeugen vernommen werden, die den Entziehungsgrund bestätigen können (Birkenheier, aaO, § 2336 Rn. 30).

Derartige Schritte haben die Eltern des Klägers zu Lebzeiten indes nicht bestritten, weshalb sie sich – ebenso wie der beklagte Verein als der Rechtsnachfolger der verstorbenen Mutter – nach ihrem Tod „damit abfinden“ müssen, dass ihr offenbar bis zuletzt ungeliebter, einziger Sohn den ihm gesetzlich (und verfassungsrechtlich) zustehenden Pflichtteil fordert und auch erfolgreich durchsetzen kann.

4. Die geltend gemachten Zinsen aus dem nach alledem auszuurteilenden Pflichtteilsanspruch sind aus §§ 286 Abs. 1, 291 S. 1 BGB gerechtfertigt.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in § 709 S. 1 ZPO.

 

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