OLG München – Az.: 31 Wx 415/17 – Beschluss vom 05.11.2020
1. Der Beschluss des Amtsgerichts Starnberg – Nachlassgericht – vom 5.9.2017 wird aufgehoben.
2. Die Akten werden dem Amtsgericht Starnberg – Nachlassgericht – zur weiteren Durchführung des Erbscheinserteilungsverfahren zurückgegeben.
Gründe
I.
Die Erblasserin und ihr vorverstorbener Ehemann schlossen am 24.10.1979 einen Ehe- und Erbvertrag, der in Ziffer. IV („Erbvertrag“) auszugsweise wie folgt lautet:
In erbvertragsmäßiger Form, d.h. in einseitig unwiderruflicher Weise, treffen die Vertragsteile folgende gemeinsame Verfügung von Todeswegen:
1) Die Eheleute (…) setzen sich hiermit gegenseitig zu Alleinerben ein, ohne Rücksicht darauf, ob und wieviele Pflichtteilsberechtigte vorhanden sind.
2) Für den Fall des Todes des Längstlebenden von Ihnen und/oder für den Fall ihres gleichzeitigen Ablebens bestimmen sie zu Erben zu gleichen Anteilen
a) Die Tochter der Ehefrau (…)
b) Die Tochter des Ehemannes aus zweiter Ehe (= Beteiligte zu 2)
c) Die Tochter des Ehemannes aus zweiter Ehe (= Beteiligte zu 1).
Ersatzerben werden heute nicht bestimmt. (….)
3) (…)
4) Sollte einer der eingesetzten Erben beim Tode des erstversterbenden Teils der Eheleute (…) seinen Pflichtteil geltend machen, so wird er nach dem Tode des Längstlebenden der Eheleute (…) nicht Erbe. In diesem Falle werden Erbe zu gleichen Anteilen die übrigen eingesetzten Erben (….)
Die Tochter der Ehefrau ist ohne Hinterlassung von Abkömmlingen vorverstorben.
Die Erblasserin hat mehrere notarielle Testamente errichtet. In dem letzterrichteten (11.5.2009) hat sie den Beteiligten zu 3 zu ihrem Alleinerben bestimmt.
Die Beteiligten zu 1 und 2 beantragten am 11.08.2016 vor dem Nachlassgericht einen Erbschein, der eine Erbquote zu ihren Gunsten von je 1/2 ausweist. Dem ist der Beteiligte zu 3 entgegengetreten, da nach seiner Auffassung die Beteiligten zu 1 und 2 den Pflichtteil nach dem Ableben ihres Vaters zu Lebzeiten der Erblasserin geltend gemacht haben.
Mit Beschluss vom 5.9.2017 hat das Nachlassgericht die Tatsachen für die Feststellung des beantragten Erbscheins für festgestellt erachtet. Das Nachlassgericht ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass nach den durchgeführten Ermittlungen nicht nachgewiesen ist, dass die Beteiligten zu 1 und 2 nach dem Ableben ihres Vaters den Pflichtteil geltend gemacht haben. Infolge des Wegfalls der Tochter der Erblasserin sei es in Bezug deren Erbteils zur Anwachsung zugunsten der Beteiligten zu 1 und 2 gekommen. Im Hinblick auf die Vertragsmäßigkeit der in dem Erbvertrag getroffenen Verfügungen, habe die Erblasserin diese nicht durch nachfolgende letztwillige Verfügungen abändern können. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des
Beteiligten zu 3.
II.
Die zulässige Beschwerde hat bereits deswegen in der Sache Erfolg, da – ungeachtet der zwischen den Beteiligten strittigen Frage, ob ein Pflichtteilverlangen der Beteiligten zu 1 und 2 gegeben ist – der von den Beteiligten zu 1 und 2 erstrebte Erbschein (Miterbinnen von jeweils ½) nicht die materielle Erbfolge abbildet.
1. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Nachlassgerichts, dass die Erblasserin die in dem Erbvertrag getroffenen Erbeinsetzung im Hinblick auf § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB deswegen nicht mehr abändern konnte, da der Erbteil der bedachten Tochter der Erblasserin, die infolge Vorversterbens weggefallen ist, den Beteiligten zu 1 und 2 angewachsen ist und diese Anwachsung von der Bindungswirkung im Sinne der § 2278 BGB i.V.m. § 2289 Abs.1 S. 2 BGB erfasst wird.
a) Es erscheint bereits fraglich, ob die nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung eines Erbteils infolge Wegfalls eines Bedachten überhaupt eine vertragsmäßige Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt.
aa) § 2278 Abs. 1 BGB setzt in Bezug auf die Vertragsmäßigkeit deren Anordnung durch die Ehegatten voraus, wobei diese auf die in § 2278 Abs. 2 enumerativ aufgezählten Verfügungen beschränkt ist. Demgegenüber tritt die Anwachsung als dispositive Ergänzungsnorm (BeckOGK/Gierl BGB § 2094 Rn. 2) kraft Gesetzes ein. Im Hinblick darauf stellt die Anwachsung nach Auffassung des Senats gerade keine Verfügung im Sinne des § 2278 BGB dar. Soweit dies im Falle einer Pflichtteilsklausel vertreten wird (vgl. BayObLG ZEV 2004, 202 m. Anm. Ivo), findet diese Auffassung ihre Rechtfertigung im Kern darin, dass die Ehegatten ihre Erbfolge durch die Erbeinsetzung abschließend getroffen haben und die Pflichtteilsklausel bei ihrem Eingreifen als Teil des Willens der Ehegatten die bereits getroffene Erbfolge modifiziert und sich diese Erbfolge somit auf einer letztwilligen Verfügung der Ehegatten beruht. Die Regelung in der Pflichtteilsklausel ist somit Teil der Erbeinsetzung und erweist sich so als eine Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB.
bb) Dieser Ansatz lässt sich aber nicht ohne weiteres auf die sonstigen Fälle eines Wegfalls des ursprünglich Bedachten übertragen (so aber OLG Nürnberg DNotz 2018, 148 m abl Anm Braun für den Fall, dass einer von zwei in einem Ehegattentestament eingesetzten Schlusserben ohne Hinterlassung von Abkömmlingen wegfällt im Hinblick auf § 2270 Abs. 2 BGB; OLG Hamm MittBayNot 2015, 413 betreffend die Anwachsung infolge des Zuwendungsverzichts eines der Schlusserben im Hinblick auf § 2270 Abs. 2).
In dem vorliegenden Fall des Vorversterben eines der Bedachten tritt die Anwachsung allein kraft Gesetzes infolge Vorversterbens der Bedachten ein, da die Ehegatten für diesen Fall ausdrücklich keine Regelung („Ersatzerben werden heute nicht bestimmt“) getroffen haben. Insofern ist die Anwachsung nicht die Kehrseite einer von den Ehegatten getroffenen Erbeinsetzung, sondern tritt allein kraft Gesetzes ein, sodass sich die Anwachsung nicht als „andere Verfügung“ im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt und demgemäß in diesem Umfang auch keine Bindungswirkung eintreten kann (vgl. NK-BGB/Kornexl 5. Auflage<2018> § 2278 Rn. 10). Die hiergegen erhobenen Einwände im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Erbteils (vgl. dazu z.B. J. Mayer/Dietz in: Reimann/Bengel/Dietz Testament und Erbvertrag 7. Auflage <2020> § 2278 Rn 47) greifen nicht. Denn inmitten steht allein die Frage, ob eine später errichtete letztwillige Verfügung die erbrechtliche Stellung der weiterhin Bedachten im Sinne des § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB beeinträchtigt. Insofern geht § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB davon aus, dass die Unwirksamkeit auch nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfassen kann („soweit“).
b) Die Frage, ob die infolge Wegfalls eines Bedachten nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung unter § 2278 BGB fällt und sich insofern als vertragsmäßig darstellt, bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da die individuelle Auslegung der im Erbvertrag getroffenen Anordnungen vorliegend zu dem Ergebnis führt, dass die Erblasserin nach Wegfall ihrer Tochter zu einer neuen letztwilligen Verfügung in Bezug auf diesen Erbteil befugt sein sollte.
aa) Die von den Ehegatten in dem Erbvertrag getroffenen Anordnungen sind nach dem Verständnis des konkreten Empfängers der Willenserklärung in der konkreten Situation der Errichtung des Erbvertrags auszulegen, wobei die §§ 157, 242 BGB Anwendung finden und alle Umstände, sowohl in und außerhalb der Testamentsurkunde zu berücksichtigen sind (BeckOGK/Gierl BGB § 2084 Rn. 12 und 30), vorliegend insbesondere die familiären Beziehungen der Ehegatten zu den jeweiligen Bedachten.
bb) Vor deren Hintergrund (Beteiligte zu 1 und 2 sind Kinder des Ehemannes aus seiner zweiten Ehe; die vorverstorbene Bedachte war eine Tochter der Erblasserin aus ihrer erster Ehe) ist die Anordnung der Vertragsmäßigkeit insofern auslegungsbedürftig, da in einer solchen Konstellation das Interesse der jeweiligen Ehepartner in der Regel primär darauf gerichtet ist, dass der eine Ehepartner an seiner letztwilligen Verfügung zugunsten der Abkömmlinge des anderen Ehepartners gebunden ist, nicht aber an seine Verfügung zugunsten des eigenen Kindes. Diese Interessenslage kommt auch in der Regelung des § 2270 Abs. 2 BGB zum Ausdruck, die im Rahmen des § 2278 BGB entsprechend heranzuziehen ist (vgl. Palandt/Weidlich BGB 79. Auflage <2020> § 2278 Rn. 4).
cc) Unter Zugrundelegung dieser Wertung ist der Senat der Überzeugung, dass die Willensrichtung der Ehegatten im Zeitpunkt des Abschlusses des Erbvertrags allein darauf gerichtet war, dass der überlebende Ehegatte die Erbenstellung der jeweiligen Abkömmlinge des erstversterbenden Ehegatten nach dessen Ableben nicht mehr entziehen kann, jedoch nicht an einer unveränderlichen Selbstbindung in Bezug auf seine eigenen Abkömmlinge. Demgemäß war die Erblasserin nicht daran gehindert, in Bezug auf den ihrer Tochter ursprünglich zugedachten Erbteil neu zu testieren, hingegen war sie in Bezug auf die den Beteiligten zu 1 und 2 zugedachten Erbteile an ihrer Erbeinsetzung in dem Erbvertrag gebunden, da das Interesse des Ehemanns der Erblasserin darauf gerichtet war, diesen als seine Kinder ihre zugedachten Erbteile zu sichern.
dd) Insofern kommt es zwar nach Wegfall der Tochter der Erblasserin zu einer Anwachsung zugunsten der Erbteile der Beteiligten zu 1 und 2. Die „Beeinträchtigung“ i.S.d. § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB infolge der Neutestierung der Erblasserin bezieht sich aber allein auf die den Bedachten zu 1 und 2 ursprünglich angedachten Erbteile, umfasst aber nicht den angewachsenen Erbteil. Dem steht nicht entgegen, dass der angewachsene Erbteil keinen gesonderten Erbteil darstellt, sondern ursprünglicher Erbteil und „anwachsender Erbteil“ eine Einheit darstellen (BeckOGK/Gierl BGB § 2094 Rn. 42). Denn – wie bereits oben ausgeführt – geht § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB davon aus, dass die Unwirksamkeit auch nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfassen kann („soweit“).
2. Demgemäß führt die Neutestierung der Erblasserin zu einer Erbenstellung der Beteiligten zu je 1/3. Dies hat grundsätzlich zur Konsequenz, dass der Senat zum einen den Beschluss des Nachlassgerichts bereits deswegen aufhebt, zum anderen dass er den Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 1 und 2 zurückweist.
3. Statt der Zurückweisung des Antrags besteht aber auch die Möglichkeit, dass der Senat – mit Aufhebung der Entscheidung des Nachlassgerichts – die Akten an das Nachlassgericht zurückgibt, damit die Beteiligten zu 1 und 2 die Möglichkeit erhalten, den ursprünglichen Antrag entsprechend abzuändern. Insofern liegt keine gebührenpflichtige Neuantragstellung vor (vgl. zu allem Gierl in: Burandt/Rojahn Erbrecht 3. Auflage <2019> § 352e FamFG Rn. 221). Dies setzt aber voraus, dass mit einer entsprechenden Antragsänderung zu rechnen ist. Dies ist vorliegend der Fall, da die Beteiligten zu 1 und 2 ausdrücklich eine entsprechende Antragsänderung nach Rückgabe der Akten an das Nachlassgericht angekündigt haben.
III.
Eine Kostenentscheidung war nicht veranlasst. Da die Beschwerde erfolgreich war, fallen keine Gerichtskosten an (§ 25 Abs. 1 GNotKG). Eine Anordnung der Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beteiligten zu 3 durch die Beteiligten zu 1 und 2 hält der Senat für nicht geboten.
IV.
Die Voraussetzungen der Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor. Die Entscheidung des Senats fußt auf der individuellen Auslegung des von den Ehegatten geschlossenen Erbvertrags, so dass die abweichende Rechtsauffassung betreffend die grundsätzliche Bindungswirkung einer Anwachsung nicht (mehr) entscheidungserheblich war.