KG Berlin, Az.: 6 W 1/18, Beschluss vom 20.02.2018
Auf die Beschwerden der Beteiligten wird der Beschluss des Amtsgerichts Spandau als Nachlassgericht vom 10. Oktober 2017 geändert:
Die dem Erbscheinsantrag vom 27. Juli 2017 zugrundeliegenden Tatsachen werden festgestellt.
Gründe
I. Die Beteiligten zu 1) und 2) sind die einzigen Kinder des am 25. Juni 2016 verstorbenen Erblassers aus seiner ersten Ehe. Sie begehren die Erteilung eines Erbscheins, der sie zu gesetzlichen Erben zu je einem Halb ausweist. Der Erblasser hat seine zweite Ehefrau überlebt und mit dieser ein gemeinschaftliches notarielles Testament vom 5. Oktober 1992 errichtet, in dem sich die Eheleute gegenseitig zu Alleinerben einsetzten (BA AG … ).
Bei dem Nachlassgericht ist am 1. August 2016 eine notariell beglaubigte Erbausschlagungserklärung des Beteiligten zu 1) vom 28. Juli 2016 eingegangen (Bl. 2 d. A.). Darin erklärte der Beteiligte zu 1) die Erbausschlagung vorsorglich aus sämtlichen Berufungsgründen und gab an, dass er zum Nachlasswert keine Auskunft erteilen könne.
Die Beteiligte zu 2) gab für sich und ihren Sohn gleichlautende notariell beglaubigte Erbausschlagungserklärungen unter dem 1. August 2016 ab, die beim Nachlassgericht am 2. August 2016 eingegangen sind (Bl. 5 d. A.).
Am 3. August 2016 erschien Frau V. L. bei dem Nachlassgericht und erklärte, die Vorsorgebevollmächtigte des Erblassers gewesen zu sein. Sie übergab neun Schlüssel für das vom Erblasser gemietete Reihenhaus sowie diverse Unterlagen, aus denen sich ergab, dass ein Aktivnachlass von über 50.000,- EUR vorhanden ist.
Die mit Beschluss vom 4. August 2016 bestellte Nachlasspflegerin hat unter dem 28. März 2017 das Nachlassverzeichnis vorgelegt (Bl. 13 ff d. A.), wonach zum Zeitpunkt des Erbfalls ein Bankguthaben über 53.795,53 Euro und unter Berücksichtigung der Passiva – u. a. einer Verbindlichkeit der Vorsorgebevollmächtigten in Höhe von 3.412,50 Euro – ein reiner Nachlass von 42.218,77 Euro vorhanden war.
Mit notariell beglaubigten Erklärungen vom 8. Mai 2017, eingegangen bei dem Nachlassgericht am 11. Mai 2017, haben die Beteiligten zu 1) und 2) ihre Ausschlagungserklärungen aus allen Gründen, insbesondere wegen Irrtums, angefochten. Der Beteiligte zu 1) hat angegeben, die Vorsorgebevollmächtigte habe ihm den Zutritt zur Wohnung seines Vaters und die Herausgabe der Wohnungsschlüssel verweigert. Sie habe sich darauf berufen, seit über 20 Jahren im Haushalt seines Vaters tätig zu sein, noch offene Forderungen gegen seinen Vater zu haben und gesagt, alles Weitere sei vom Gericht zu klären. Weitere Auskünfte habe sie verweigert. Da er innerhalb der sechswöchigen Ausschlagungsfrist keine Möglichkeit gehabt habe, sich über die verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses zu informieren, habe er davon ausgehen müssen, dass der Nachlass im Wesentlichen aus der Wohnungseinrichtung und etwaigen Verbindlichkeiten gegenüber der Vorsorgebevollmächtigten und dem Wohnungsvermieter besteht. Erst aus der Nachfrage der Nachlasspflegerin nach weiteren Verwandten seines Vaters habe sich ergeben, dass der Nachlass weitere Wertgegenstände umfasste, die den Wert der Wohnungseinrichtung erheblich überstiegen, so dass er nicht überschuldet, sondern werthaltig ist. Er fühle sich durch das Verhalten der Vorsorgebevollmächtigten bewusst getäuscht. Die Beteiligte zu 2) hat angegeben, von den Informationen ihres Bruders ausgegangen zu sein und sich deshalb ebenfalls in einem Irrtum über die verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses befunden zu haben.
Den am 28. Juli 2017 eingegangenen Erbscheinsantrag (Bl. 36 ff d. A.) hat das Nachlassgericht mit dem angefochtenen Beschluss vom 10. Oktober 2017 zurückgewiesen mit der Begründung, ein zur Anfechtung berechtigender Irrtum scheide aus, weil die Formulierung in den Ausschlagungserklärungen (“Zum Nachlasswert kann ich keine Auskunft erteilen”) vermuten lasse, dass die Ausschlagungen unabhängig von der Höhe des Nachlasses vorgenommen worden seien. Außerdem handele es sich – so die im Beschluss in Bezug genommenen vorangegangenen Hinweise – bei den angegebenen Gründen um Umstände, die nicht aus der jeweiligen Urkunde selbst ersichtlich und nicht allgemein bekannt seien und daher zur Auslegung nicht herangezogen werden könnten.
Hiergegen richtet sich die nach Zustellung des Beschlusses am 13. Oktober bzw. 16. Oktober 2017 am 13. November 2017 eingegangene Beschwerde der Beteiligten, mit der sie ihren Antrag auf Erteilung des beantragten Erbscheins weiter verfolgen.
Das Nachlassgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 6.2.2018, auf dessen Inhalt verwiesen wird, haben die Beteiligten ihre Beschwerde ergänzend begründet und weiter zu den durch die Äußerungen der Vorsorgebevollmächtigten hervorgerufenen Fehlvorstellungen vorgetragen.
II. Die Beschwerde der Beteiligten ist gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässig, sie ist insbesondere form- und fristgerecht bei dem Nachlassgericht eingegangen.
Sie hat auch in der Sache Erfolg. Denn die Beteiligten sind gesetzliche Erben erster Ordnung je zur Hälfte geworden (§ 1924 Abs. 1 BGB). Eine entgegenstehende testamentarische Verfügung liegt nicht vor. Sie haben zwar das Erbe zunächst gemäß §§ 1942 ff. BGB ausgeschlagen mit der Wirkung, dass der Anfall der Erbschaft als nicht erfolgt gilt (§ 1953 Abs. 1 BGB). Diese Ausschlagungserklärungen haben sie jedoch wirksam angefochten mit der Wirkung, dass die Anfechtung als Annahme gilt (§ 1957 Abs. 1 BGB).
Die notariell beglaubigten und damit im Sinne der §§ 1955 S. 2, 1945 Abs. 1 BGB formgerechten Anfechtungserklärungen sind am 11. Mai 2017 bei dem Nachlassgericht eingegangen. Dadurch wurde die Anfechtungsfrist von sechs Wochen ab Kenntnis von dem Anfechtungsgrund (§ 1954 Abs. 1 BGB) gewahrt. Denn die Beteiligten haben erst durch das Schreiben der Nachlasspflegerin vom 30. März 2017 und das persönliche Gespräch des Beteiligten zu 1) mit ihr vom 13. April 2017 erfahren, dass der Aktivnachlass nicht nur aus der Wohnungseinrichtung bestand, sondern noch weitere Wertgegenstände umfasste, und deren Wert vorhandene Verbindlichkeiten überstieg, der Nachlass also nicht überschuldet war.
Entgegen der Ansicht des Nachlassgerichts stand den Beteiligten auch ein Anfechtungsrecht gemäß § 119 Abs. 2 BGB zu.
Die irrtümliche Annahme, der Nachlass sei überschuldet, stellt einen Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB dar, wenn der Irrtum nicht nur auf einer unzutreffenden Bewertung der dem Erklärenden bekannten Nachlassgegenstände, sondern vielmehr auf einer unrichtigen Vorstellung über die Zusammensetzung des Nachlasses beruhte, wenn also der Erbe nur deshalb von einer Überschuldung ausging, weil er – wie vorliegend – keine Kenntnis von einem weiteren werthaltigen Nachlassgegenstand hatte (vgl. BGH NJW 1989, 2885; OLG Stuttgart FamRZ 2009, 1182 – 1183, zitiert nach juris, dort Rdz. 26; BayObLG NJW 2003, 216; OLG Düsseldorf NJW-RR 2009, 12; vgl. auch Ellenberger in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 77. Auflage § 119 Rdnr. 27 m.w.N.).
Die Beteiligten haben sich bei Abgabe ihrer Ausschlagungserklärungen vom 28. Juli 2016 und 1. August 2016 über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses geirrt. Sie glaubten, der Nachlass sei überschuldet, nachdem die Vorsorgebevollmächtigte und Erbschaftsbesitzerin den Zutritt zur Erblasserwohnung und die Herausgabe von Schlüsseln unter Berufung darauf verweigerte, dass sie seit über 20 Jahren im Haushalt des Erblassers tätig sei, sie noch Forderungen gegen den Erblasser habe und alles Weitere vom Gericht zu klären wäre. Unter den von den Beteiligten geschilderten Umständen, an deren Wahrheitsgehalt zu zweifeln der Senat keinen Anlass hat, ist es nachvollziehbar, dass sie glaubten, es sei zum Zeitpunkt des Erbfalls kein Geldvermögen vorhanden gewesen, um die Schulden zu begleichen, und diesen Schulden stünden auf der Aktivseite lediglich die Wohnungseinrichtung gegenüber. Denn das von dem Erblasser bewohnte Reihenhaus war lediglich gemietet, weiteres gegenständliches Aktivvermögen außer der Wohnungseinrichtung war ihnen nicht bekannt, und aus der Sicht der Beteiligten ließen sich die offenen Verbindlichkeiten gegenüber der Vorsorgebevollmächtigten nur damit erklären, dass kein ausreichendes Geldvermögen zu deren Begleichung vorhanden war; denn – so tragen die Beteiligten weiter mit der Beschwerdebegründung vor – ihr Vater als vormaliger Postbeamter sei stets sehr korrekt gewesen und habe keine Schulden offen stehen lassen, wenn er sie bezahlen konnte, angesichts der von der Vorsorgebevollmächtigten angegebene umfassenden Vollmacht habe auch kein Anhalt dafür bestanden, dass ihre Forderung bestritten sein könnte. Soweit die Beteiligten ihre durch die Äußerungen der Vorsorgebevollmächtigten hervorgerufenen Fehlvorstellungen erst mit dem Schriftsatz vom 6.2.2018 S. 5 ff. ergänzt und vertieft haben, ist dies noch zu berücksichtigen, da es sich nicht um neue Anfechtungsgründe handelt. Denn der Anfechtungsberechtigte kann seine ursprüngliche Anfechtungserklärung auch noch später mit Erläuterungen und Ergänzungen versehen (BGH, Beschluss vom 2.12.2015 – IV ZB 27/15, Rn. 11 zit. nach Juris).
Die Annahme der Überschuldung war jedoch unzutreffend, weil – wovon die Beteiligten im Erklärungszeitpunkt keine Kenntnis hatten – zum Aktivnachlass tatsächlich ein Bankguthaben von über 53.000 Euro gehörte, das die Forderungen der Vorsorgebevollmächtigten weit überstieg.
Der Irrtum war auch kausal für die Ausschlagungserklärungen. Die Kausalität des Irrtums für die abgegebene, angefochtene Ausschlagungserklärung ist danach zu beurteilen, ob der Erklärende bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falles die Ausschlagung nicht erklärt hätte. Dies ist hier anzunehmen, da die Beteiligten im Falle der Kenntnis vorhandenen Geldvermögens nicht von einer Überschuldung des Nachlasses ausgegangen wären.
Der Senat teilt nicht die Ansicht des Nachlassgerichts, ein entsprechender Irrtum der Beteiligten könne vorliegend schon deshalb nicht festgestellt werden, weil die Beteiligten in ihren Ausschlagungserklärungen angegeben haben, sie könnten zum Nachlasswert keine Auskunft erteilen. Denn dabei handelt es sich, wie das Wort “Auskunft” zeigt, um eine bloße Angabe zum – nicht bekannten – Wert, der u. a. für die Berechnung der Gebühren des beglaubigenden Notars von Bedeutung ist; daraus kann nicht gefolgert werden, dass ihnen die Höhe des Nachlasses bzw. die Höhe des auf sie entfallenden Erbteils gleichgültig gewesen wäre. Eine den zitierten Beschlüssen des OLG Düsseldorf vergleichbare Fallgestaltung ist hier nicht gegeben. Die Beteiligten haben in ihren Ausschlagungserklärungen nicht angegeben, dass sie die Erbschaft ausschlagen – “gleichgültig, …. wie hoch ihr Erbteil sein sollte” (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.7.2004, I-3 Wx 193/04). Auch die in den Hinweisen wiedergegebenen Auslegungsgrundsätze zur Anfechtungserklärung stehen dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Die Beteiligten haben weder in den Anfechtungserklärungen noch in den Ausschlagungserklärungen Angaben gemacht, aufgrund derer der geltend gemachte Irrtum verneint werden müsste. Abgesehen davon setzt die Anfechtung gemäß § 119 Abs. 2 BGB keine ausdrückliche Benennung des Irrtums bei Abgabe der Erklärung voraus; ausreichend, aber auch notwendig ist vielmehr, dass die angefochtene Erklärung tatsächlich auf einem entsprechenden Irrtum beruhte und dass dies aufgrund der Umstände des Einzelfalles zur notwendigen Überzeugung des Gerichts festgestellt werden kann. Dies ist vorliegend – wie oben ausgeführt – der Fall.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Gerichtskosten fallen für das erfolgreiche Rechtsmittel fallen nicht an, §§ 22 Abs. 1, 25 Abs. 1 GKG. Ihre außergerichtlichen Kosten müssen die Beteiligten mangels eines Verfahrensgegners ohnehin selbst tragen.
Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 70 Abs. 2 FamFG liegen nicht vor.